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Freitag, 29. 06.
Gegen 16.00 fahre ich los. Kurz
vorher habe ich mir meine ca. 10 kg Gepäck zusammengesucht: Ultraleichtzelt,
Sommerschlafsack, Isomatte, T-Shirt usw., Tevas, Zahnbürste usw., Landkarten
sowie für Regentage ein Buch, das meiste davon verstaut in einer Vaude-Fahradtasche
und einer Lenkertasche. Regenjacke und Gamaschen trage ich am Körper, denn
Regen liegt in der Luft wie ich losfahre und auch für die nächsten Tage sind
die Wetteraussichten schlecht.
Bis auf einige kurze Schauer zwischendurch
bleibt es heute jedoch weitgehend trocken. Ich nehme die B88 bis Orlamünde
und dann das Orlatal nach Pößneck. Die Landstraße Richtung Ziegenrück führt
steil hinaus. Noch bewege ich mich in bekanntem Gelände. Von Ziegenrück geht
es weiter nach Lobenstein, auch hier zunächst in einer starken Steigung. Von
dort führt eine kleine Straße hinunter ins Saaletal Richtung Harra, Blankenberg,
Naila. Hier irgendwo möchte ich für die Nacht bleiben. Auf einem Friedhof
fülle ich meine Wasservorräte auf; alter Radfahrertrick: dort gibt es immer
einen Wasserhahn, wenn man sonst nichts findet. Wenige Kilometer vor Naila,
bei Marxgrün stelle ich in einem Laubwald das Zelt auf. Es ist 20.00.
Heute gefahren: 80,35 km in 3:44
h Sattelzeit mit durchschnittlich 21,4 km/h über 1304 hm.
Samstag, 30.06.
In der Nacht hat es geregnet.
Der Tag wird kühl und wechselhaft. Der Wind weht von vorn. Immer wieder gibt
es Schauer aber die Laune bleibt gut. Ab und zu schaut die Sonne durch. Regen
hält mich nicht von der Weiterfahrt ab. Die Temperatur liegt tagsüber kaum
über 17 Grad aber der Regen wird nie so stark, daß man durchweicht. Ich starte
um 8.00 und gehe nach einem kurzem Einkaufsstopp in Naila weiter Richtung
Helmbrechts und von dort nach Münchberg. Die Strecke durch das Fichtelgebirge
ist abwechslungsreich, zum Teil bissig aber das stört nicht. Von Münchberg
kommen zügige 30 km auf der B2 bis kurz hinter Bad Berneck. Man kann die auf
diesem Stück recht idyllisch angelegte B-Straße bequem fahren, weil die parallel
laufende Autobahn den meißten Verkehr aufnimmt. Bayreuth umgehe ich weiträumig,
denn schon nach dem Blick auf die Landkarte sieht die Durchfahr nach Ärger
und Zeitverlust aus. Hinter Bad Berneck fahre ich also links Richtung Goldkronach
und schlängle mich dann auf Nebenstraßen weiter nach Süden durch den Oberpfälzer
Wald. Auch hier geht es trotz häufiger Abzweigungen recht zügig und ohne Orientierungsschwierigkeiten
vorwärts, denn ich lerne schnell, die Landkarte auch während der Fahrt zu
lesen. So finde ich denn meinen Weg durch die teils bewaldete, teils freie
Mittelgebirgslandschaft, durchquere Weidenberg, Seybothenreuth, Würnsreuth,
Unterölschnitz, Tiefenthal, Neuhof, Preußling, Engelmannsreuth, Thurndorf,
Neuzirkendorf und Altzirkendorf und komme schließlich nach Auerbach. Von dort
geht es auf der B 85, alternativlos aber ohne Lebensgefahr benutzbar, bis
Amberg. Hier beginnt dann die Zielgerade bis Regensburg: eine durchgängige,
landschaftlich brauchbare und recht wenig befahrbare Landstraße entlang der
Vils, ab Kalmünz entlang der Naab, die dann kurz vor Regensburg in die Donau
mündet: etwa 70 km weitgehend gerade Strecke, die ich trotz weiterhin stehendem
Gegenwind nach etwas mehr als 2 Stunden erledigt habe. Regensburg erreiche
ich gegen 17:40. In der Nachmittagssonne überquere ich die Steinerne Brücke.
Der Blick auf Dom und Altstadt ist verlockend. Für die Nacht bleibe ich auf
einem Campingplatz am Westrand der Stadt, direkt an der Donau.
Heute gefahren: 209,12 km in 8:04
h Sattelzeit mit durchschnittlich 25,9 km/h über 1970 hm.
Sonntag, 01. 07.
Für heute ist Sonntagswetter angesagt
und ich schreibe meinen ursprünglichen Plan, den Tag in Regensburg zu bleiben,
in den Wind. Der Vortag hat nicht an den Grenzen genagt und in den Folgetagen
soll das Wetter wieder kippen, vertretbar also, heute zu schauen, was geht.
Start ist 9.00. Für den weiteren Weg von Regensburg nach Süden sticht zunächst
die B 15 Richtung Landshut ins Auge, die ich jedoch versuche, zu meiden. Das
erweist sich bei den auf den Fernverkehr ausgerichteten Wegweisungen und dem
in die Landschaft gewebten Geflecht aus Umgehungsstraßen mit den üblichen
Radwegfragmenten als schwierig aber mit zunehmender Entfernung von der Großstadt
wird dann die B 15 zu einem brauchbaren Stück Weg, das ich gern annehme, um
zügig voranzukommen. Die ersten 40 km sind geschafft, als ich mich im gebotenen
Abstand vor Landshut nach links schlage, um auf Nebenstraßen nach Wörth an
der Isar zu gelangen. Der Ort ist leicht zu finden, denn dort steht ein Atomkraftwerk
mit einer weit in den blauen Himmel ragenden Wasserdampfsäule. Wenigstens
ein Nutzen solcher Anlagen. Von dort geht es dann weiter auf Nebenstraßen
und durch hügelige Landschaft nach Vilsbiburg, das ich dann ein kurzes Stück
auf der B 299 verlasse. Nach ca 8 km schlage ich mich dann nach rechts Richtung
Bodenkirchen und gelange wiederum auf Nebenstraßen und durch hügelige, teils
bewaldete Landschaft nach Kraiburg am Inn. Es ist früher Nachmittag. Die Sonne
brennt. Die Stiftskirche hier hat einen Friedof und der wiederum einen Wasserhahn.
Nach knapp zwei Tagen den Inn
zu überqueren, ist ein denkwürdiger Moment: Die Alpen sind nun in greifbarer
Nähe. Von dort kommt das kalte, graublaue Wasser dieses reißenden Gebirgsflusses,
der mir heute nicht zum letztenmal begegnen wird. Auf der Landkarte, die ich
hier umschlage, wird der Chiemsee sichtbar und ich erkläre ihn zum nächsten
Etappenziel für heute. Ein Netz an Nebenstraßen führt dorthin; etwa 40 km
hügeliger Landschaft liegen vor mir. Nach kurzer Zeit treffe ich auf einen
Radfahrer, der nach Seebruck unterwegs ist und wir schließen uns zusammen.
Er kennt den Weg und es geht rasant vorwärts. Von Seebruck fahre ich dann
allein mit unvermindertem Tempo weiter entlang des Ostufers und bin schneller
als gedacht in Übersee, einem Ort am Südufer. Die ersten Erhebungen der Alpen
stehen nun unmittelbar wie eine Wand vor mir. Ein weiteres Zwischenziel ist
erreicht und nun heißt es, das Tempo zu drosseln. Der nächste Tag wird mir
die ersten großen Steigungen bescheren, für die ich die Kraft noch brauche.
Ich fahre bis Grassau und gehe dort auf die B305, die sich hier beginnt, in
die ersten Gebirgsschluchten hineinzuschlängeln. Ein warmer Wind treibt mich
voran. Dazu kommt der Blick auf die Berge in der warmen Nachmittagssonne und
der Gedanke an die nächsten Tage und Wochen auf bizarren Gebirgsstrecken,
die es mir schwer machen, für heute ein Ende zu finden. Es kostet einige Überwindung,
kurz vor Oberwössen links zu dem Campingklatz hinabzufahren, aber die Wahl
war gut. Es ist inzwischen 18.40 und der Platz liegt direkt am Gebirgsbach.
Heute gefahren: 208 km in 7:49
h Sattelzeit mit durchschnittlich 26,6 km/h über 1321 hm.
Montag, 02. 07.
In der Nacht hat es geregnet,
die Luft ist mild und klar. Sie duftet nach wiedererwachter Natur. Start ist
8.15 Uhr. Kurz nach Reit im Winkel beginnt Österreich. Das erste Etappenziel
ist St. Johann, das ich im beginnenden Nieselregen erreiche.
An die Gegend kann ich mich gut
erinnern, weil ich hier, ebenso im Regen, im Jahr zuvor den letzten Tag der
Tour aus Korsika verbracht hatte. Moralisch war ich damals am Ende: eine Woche
Regen, Schnee und Kälte in den Bergen waren zuviel. Doch obwohl es heute nicht
anders ausieht, ist es nun genau dieses Abenteuer, das mich fasziniert. Kurz
nach St. Johann sitze ich etwa eine halbe Stunde in einem Bushäuschen aus,
weil der Regen recht stark wird aber es geht weiter und obwohl es in Folge
immer wieder Schauer gibt, dringt das Wasser nicht bis zu mir durch. Dazu
ist die Laune zu gut.
Von St. Johann steigt die Straße
sanft über knapp 20 km bis nach Hochfilzen auf 959 m und fällt von dort ebenso
sanft ab nach Saalfelden. Von hier geht es dann auf der recht unangenehm befahrbaren
B303 Richtung Zell am See, jedoch schlage ich mich bereits am Nordufer des
Zeller Sees nach links auf eine Nebenstraße, um den See am Ostufer zu umfahren.
Das Wetter hat sich inzwischen stabilisiert und durch eine hochliegende dünne
Wolkendecke strahlt sommerliche Wärme. Es ist kurz vor 12.00 und ich habe
mich entschlossen, heute noch in den Großglockner hineinzugehen. In Thumersbach
am See besorge ich mir kurz vor Ladenschluß den dazu nötigen Proviant: eine
Doppelkeksrolle. Eine solche hat an den vorangegangenen beiden Tagen nach
jeweils kräftigem Frühstück für die gesamte Tagestour gereicht, also reicht
sie auch nun.
Den Großglockner fahre ich heute
zum zweitenmal von der Nordseite. Ich habe ihn nicht nur von der Steigung,
sondern auch vom Klima her als recht rauh in Erinnerung. Auf der Paßhöhe sind
auch in den Sommermonaten größere Neuschneemengen nicht unüblich. Heute ist
es mal wieder die Steilheit, die mich trotz sehr guter Verfassung nicht so
recht meinen Rhythmus finden läßt. Ich kann mich schwer entscheiden, ob ich
im Sattel bleibe oder rausgehe, habe aber auch nicht die Ruhe, vom Tempo her
einen Gang zurückzuschalten. Das Risiko, heute leerzulaufen, schätze ich als
gering und so beiße ich mich in die immer karger, immer hochgebirgiger und
rauher werdende Landschaft. Auf den letzten Kilometern bis hinauf zur ersten
Paßhöhe werde ich zunehmend von Nebelfeldern begleitet. Das Hochgebirge empfängt
mich mit rauher Schönheit, die auch nicht von dem einsetzenden leichten Regen
verdorben wird. Der Nebel öffnet und schließt Sichtachsen auf die gegenüberliegenden
Steilhänge und läßt tief unten mal gößere, mal kleinere Ausschnitte aus dem
Serpentinenband erkennen. Ich verweile wohl eine halbe Stunde auf dem 2400m
hohen Vorpaß und nehme dann nach kurzer Abfahrt hinunter auf 2200m das Hochtor
in Angriff. Nacktes Geröll, Schneeflächen und Nebelfetzen säumen den Weg.
Kurze Momente durchbrechender Sonnenstrahlen zaubern bizarre Lichtspiele.
Es wird wohl in den nächsten Wochen keinen Moment mehr geben, in dem ich das
Hochgebirge so intensiv, so jungfräulich erlebe wie jetzt.
Die Pause am Hochtor bleibt kurz,
auch wenn ich hier noch für Stunden hätte verweilen können. Aber schon wieder
deutet sich Regen an. Nach rasanter Abfahrt erreiche ich gegen 16.45 Heiligenbluth.
Noch ist es trocken aber plötzlich öffnet der Himmel seine Schleusen. Nach
einigem Warten läßt er mir eine kurze Pause, das Zelt aufzubauen. Der Regen
dauert die ganze Nacht an.
Heute gefahren: 134 km in 6:30
h Sattelzeit mit durchschnittlich 20,6 km/h über 2651 hm.
Dienstag, 03.07.
Der Tag beginnt sonnig. Start
ist 8.10 Uhr. Von Heiligenbluth (1200m) ist die weitere Abfahrt zunächst steil
und läuft dann entlang der Möll sanft hinunter nach Winklern (700m), wo ein
kurzer Aufstieg hinauf zum Isensberg (1200m) beginnt. Von dort läuft die Straße
denn recht steil und in langgezogenen Kehren hinunter nach Lienz, das ich
ohne Pause durchquere und sofort auf die B 100 Richtung Silian-Toblach gehe.
Das Stück ist unangenehm weil stark befahren. In den etwa 50 km bis Toblach
liegen etwa 600 Höhenmeter, die sich ab etwa der Hälfte der Strecke in längeren
Abschnitten mit 3-5% Steigung bemerkbar machen. Ich bin froh, daß mich kurz
hinter Lienz ein Radfahrer überholt, an den ich mich hinten ranhängen kann.
So läßt sich das gammelige Stück schneller erledigen. Er geht gut in die Pedalen
und in der geringen Steigung von 1-2% kann ich mit den satten 30km/h, die
er vorlegt, im Windschatten noch mithalten. Dann wird es aber zusehends steiler
und ich bekomme Schwierigkeiten. Wenn es mit dem Tempo weitergeht, bin ich
bald hohl. Wir machen kurz vor Silian eine Pause, in der ich endlich dazukomme,
etwas einzuwerfen, aber es ist zu spät. Ich bin zu weit gegangen und komme
für den Rest des Tages aus dem Leistungstief nicht mehr heraus. Es ist gerade
Mittag. Das Wetter sieht passabel aus und soll in den Folgetagen wieder schlechter
werden. Das wird noch ausreichend Gelegenheit für Erholungspausen geben. Also
fahre ich es mit halber Kraft weiter. In Toblach geht es links ab, wieder
geradewegs nach Süden, in die Dolomiten. Die Straße zieht sich hier in einem
leichten Anstieg ein Flußtal hinauf bis zu einem kleinen Stausee, dem Lago
di Landro. Hier mache ich eine ausgiebige Pause, esse reichlich und lege mich
für eine Stunde in die Sonne. Die Erholung ist merklich aber nicht stabil.
Kurz hinter dem See teilt sich die Straße. Beide Wege führen nach Cortina
Anpezo, ich nehme den linken, die gebirgigere Variante, die über den Passo
Tre Croci (1809m) führt, jedoch bereits vorher, am Lago di Misurina, eine
etwas kleinere Paßhöhe überwindet und damit trotz vergleichbarer Länge deutlich
zeit- und energieintensiver ist. Da ich den anderen Weg aber bereits mehrfach
gefahren bin, habe ich mich heute für das anspruchsvollere und landschaftlich
schönere Stück entschlossen. Vom Passo Tre Croci geht es dann steil hinunter
nach Cortina und hier schließt sich dann auf 1200 m direkt der Anstieg zum
Passo di Falzarego (2100m) an. Noch lautet die Planung, danach noch den Passo
Pordoi (2239m) zu nehmen und nach dessen Abfahrt in Canazei zu bleiben, wo
es einen Campingplatz gibt. Zeitlich wäre das machbar: Von Cortina sind es
bis hinauf zum Falzarego etwa 15 km und dann nach der Abfahrt auf etwa 1200m
noch einmal etwa ebensoviel bis auf den Pordoi, also insgesamt noch etwa 30km
Steigung mit 2000 Höhenmetern und zusammen etwa 15 km Abfahrt, was unter normalen
Umständen in etwa dreieinhalb Stunden zu machen sein dürfte. Daß das für heute
zuviel ist merke ich dann aber in der Rampe zum Falzarego. So ungefähr muß
sich ein mit Waschbenzin betanktes Auto fühlen. Auf der Paßhöhe bin ich leer
und spüre leichtes Frösteln. Ein Weiterfahren ist nun sinnlos. Es gibt hier
keine warme Sonne zum Ausruhen und selbst wenn, hätte das keinerlei Substanz.
Vom Falzarego gibt es einen kurzen weiteren Anstieg hinauf zum Passo die Valparola
auf 2197m. Hier oben gibt es nur bizarres Geröll und ein Weltkriegsmuseum.
Die Straße führt dann weiter Richtung Grödnerjoch, zunächst jedoch kommt eine
lange, von Wintersportorten gesäumte Abfahrt, wo es nach etwa 7 km hinter
der Paßhöhe einen Campingplatz gibt. Es ist 16.30 Uhr.
Heute gefahren: 147,55 km in 6:37
h Sattelzeit mit durchschnittlich 22,2 km/h über 2739 hm.
Mittwoch, 04.07.
In den frühen Morgenstunden beginnt
ergiebiger Dauerregen. Es ist die angekündigte Kaltfront und nach meinen bisherigen
Erfahrungen wird es jetzt etwa 7-8h durchgängig regnen. Kein Grund, sich damit
verrückt zu machen. Ich nehme mir die verdiente Ruhepause und vertiefe mich
in meinen Roman (Lautlos von Frank Schätzing). Mag der Tag bringen was er
will. Der Platz, auf dem mein Zelt steht, ist geschottert. In Italien erlebt
man es oft, daß Campingplätze geschottert sind. So versinkt an Tagen wie heute
niemand im Schlamm. Schon bald läuft das Wasser nicht mehr ab. Ich stehe in
einem See und sehe, daß der Zelthersteller nicht zu Unrecht die Wasserdichtigkeit
verspricht. Unangenehm ist nur, daß mit der Zeit jede Bewegung anfängt zu
plätschern. Von unten wird es kalt. Die dünne Isomatte bekommt das auch zusammen
mit dem Schlafsack nicht mehr weggedämmt, aber noch kann ich nachlegen. Lange
Radhose und Vliesjacke halten mich warm. Im Zelt bleibt es trocken und so
verbringe ich in aller Ruhe den Vormittag. Kurz vor Mittag hört der Regen
auf. Sonnenstrahlen beginnen, durch die dünn geregneten Wolken hindurchzubrechen.
Gegen 12.00 Uhr fahre ich los. Die Gegend, die ich nun durchquere ist reizlos.
Einfallslos in die Landschaft gekrümelte Wintersportorte vermögen nebst den
zahlreich an die Berge geschraubten Skiliftanlagen allein ein Bild von billigem
Diskounttourismus zu vermitteln. In einem dieser Orte, er heißt Pescosta,
beginnt der Anstieg zum Grödnerjoch. Die Sonne gewinnt nun an Boden aber die
Luft bleibt kühl. Sie steht und scheint die grauen, an den Bergen liegenden
Wolkenfetzen festzuzementieren. Oben am Grödnerjoch schiebt sich in diesem
Moment gerade bleischwer von Westen her eine Schneewolke gegen den Berg. In
diesem Moment weiß ich von ihr noch nichts und es wird auch noch eine Zeit
dauern, bis sie sich dort ausreichend angestaut hat, um über den Paß hinüberzuquellen.
Also fahre ich weiter. Wenige Kilometer vor der Höhe wird es dann unangenehm.
Was sich dort anschickt, hinüberzurollen, baut sich zunächst als dunkle Wand
immer höher auf und sendet dann graue Schwaden aus, um zunächst die Sonne
zu verdecken. Dann beginnt es, kleine Staffeln an Niederschlagszellen abzusondern,
die sich ins Tal hinab bewegen und in ihrem Schlepp dann einen durchgängigen
Schleier Schneeregen nach sich ziehen. In diesem Moment habe ich noch etwa
2 km bis zur Paßhöhe zu fahren. Mit voller Kraft bewege ich mich gegen den
zu Tal fließenden bleiernen Schleier aus Kälte und halb gefrorener Feuchtigkeit.
Ich bin genügend ausgeruht. Es geht vorwärts und etwas gibt mir die Gewißheit,
daß oben eine Wirtschaft steht, in der ich die Front aussitzen und mich aufwärmen
kann. Die Hoffnung behält Recht und noch nicht kritisch durchnäßt verbringe
ich hier, nach Ankunft gegen 15.00 Uhr, etwa eine Stunde bei warmem Apfelstrudel
und Schokolade. Langsam klart es auf aber mit 3 Grad bleibt es kalt, zu kalt
für eine Abfahrt, an der man Freude hat. Mit Gamaschen, langer Radhose zwei
Windjacken und zusammengebissenen Zähnen gehe ich es an. Anspannung und Entschlossenheit
produzieren innerliche Wärme, die gar nicht da sein dürfte und so habe ich
während der Abfahrt sogar Zeit und Muße, die bis auf etwa 2000m hinab mit
Neuschnee bepuderten Berge anzuschauen und zu fotografieren. Im Grödnertal
wird es zusehends wärmer; die Strecke fällt zum Teil rasant ab und erfordert
alle Konzentration. Gegen 17.00 erreiche ich Bozen. Hier herrschen milde 16
Grad. Den einsetzenden Regen empfinde ich als warme Dusche. Weiter geht es
nach kurzem Verweilen Richtung Meran, die letzten 30 km für heute. Ich nehme
die parallel zur Autobahn auf der östlichen Flußseite laufende Straße über
Terlano, die recht angenehm zu fahren ist. Trotz des schlechten Wetters ist
das südländische Flair unübersehbar. Man mag meinen, daß es von sich aus Wärme
ausstrahlt. Bereits kurz hinter Bozen hört der Regen auf und alsbald bricht
die Nachmittagssonne durch. Meran erreiche ich um 18.30 und gehe dort auf
den Campingplatz. Die Lokalzeitung kündigt für die nächsten Tage Wetterbesserung
an. Morgen möchte ich zunächst für den Vormittag in Meran bleiben und nachmittags
nach Pratt am Stilfserjoch, etwa 50 km, fahren.
Heute gefahren: 110,64 km in 4:11
h Sattelzeit mit durchschnittlich 26,4 km/h über 962 hm.
Donnerstag, 05.07.
Die Luft ist frisch, zu frisch
für das sonst sehr mediteran wirkende Städtchen mit seinen Palmenalleen. Bis
zum Stadtzentrum dürfte es nicht mehr als ein Kilometer sein, den ich nun
langsam vor mich hinschlurfe. Die in der Höhe über der Stadt verlaufenden
Promenadenwege haben den Charme der Belle Epoque, während das kleine Gassengewirr
unten um den alten Altstadtkern anziehend museal wirkt. Der Vormittag läßt
sich hier bequem verbringen und ich komme auch dazu, mir die kleine mittelalterliche
Burg direkt neben der Altstadt anzuschauen. Kurz vor Mittag trödel ich dann
zum Campingplatz zurück, packe meine Sachen und fahre gegen 12.00 Uhr los.
Die vor mir liegenden 50 km bis Pratt werden unangenehm. Die Straße Richtung
Reschenpaß ist schmal und bis zum Anschlag mit Schwerlastverkehr befahren.
Parallel auf der anderen Seite der Etsch führt teils unten am Fluß, teils
bis weit in die mit Apfelplantagen bepflanzten Berghänge hinein, der Radweg,
für den man sich aber Zeit nehmen muß. Er führt durch liebevoll wiederhergestellte
alte Dorfkerne, vorbei an alten Burgen und eröffnet reizvolle Landschaftserlebnisse.
Er enthält kurze, nur mit Schotter befestigte Passagen, ist aber ansonsten
vom Untergrund her recht gut zu fahren. Ab und zu führt er nach den Orten
in steilen Stichstraßen hinauf in die Obsthänge und dann ebenso steil wieder
hinunter. Es bleibt mir heute nichts anderes, als mich darauf einzulassen.
Es soll ohnehin kein Tempotag werden. Zunächst geht es auf der stark befahrenen
Hauptstraße in einer langgezogenen Steigung von etwa 5% hinaus aus der Stadt.
Oben trifft die Schnellstraße mit dem Radweg zusammen. Ob und wo er unten
in der Stadt beginnt, habe ich noch nicht herausgefunden, obwohl ich heute
die Strecke zum zigstenmal fahre. Hier gehe ich auf den Radweg, der zunächst
direkt am Fluß entlangführt und zügig zu befahren ist. Jedoch baut sich gerade
ein strammer Gegenwind auf. Bei sommerlicher Wetterlage weht in den Bergen
der Wind tagsüber immer talaufwärts, ein durch die Thermik an den Berghängen
verursachter Sog. Daß es heute nachmittag andersherum ist, zeigt, daß die
angekündigte Wetterberuhigung noch aussteht. Irgendetwas brodelt hier noch
in den Bergen, über das auch der Sonnenschein und die sommerliche Temperatur
nicht hinwegtäuschen können. Die heutige, von der Entfernung so unscheinbare
Passage bis Pratt erweist sich bald als extrem bissig.
Gegen 14.40, als der vom Reschenpaß
hinunterfließende Luftstrom beginnt, kleine Schauerzellen mit sich zu ziehen,
erreiche ich Pratt. Für den Rest des Tages jedoch bleibt es trocken.
Mein Zeltnachbar ist mit dem Mountainbike
unterwegs und kann ebensowenig wie ich von den Bergen lassen. Dabei leistet
er sich unglaublichen Luxus, den man daran erkennt, daß das Zelt etwa dreimalsogroß
ist wie meins. Er verfügt über ein ausgeklügeltes Ensemble an Werkzeugen und
Ausrüstungsgegenständen. Das ist eindrucksvoll, sind es doch bei mir im Gegenteil
zum Großteil allein die Hoffnung und die Hand Gottes, auf die ich jeden Morgen
erneut vertrauen muß, um den Tag ohne Unbill zu überstehen.
Heute gefahren: 53,41 km in 2:40
h Sattelzeit mit durchschnittlich 19,9 km/h über 762 hm.
Freitag, 06.07.
Heute kommt eine Königsetappe.
Pratt liegt auf etwa 900m. Von hier geht es über 25km hinauf zum Stilfserjoch
auf 2757m. Ich liebe diese Paßauffahrt. Heute gehe ich sie zum insgesamt fünften
Mal an und werde dabei zum erstenmal schlechtes Wetter haben. Ich starte um
8.10. Es ist noch kühl. An den Bergen hängen einige hochliegende graue Wolken.
Die Sonne schickt sich an, das Tal in Besitz zu nehmen. Ich gehe den Anstieg
als sportliche Etappe an, was ich auch die letzten Jahre immer wieder getan
habe. Die Möglichkeit, hier am Morgen ausgeruht in einen der anspruchsvollsten
und nach meinen Begriffen schönsten Alpenpässe zu starten, hat einmal die
Verlockung geschaffen, der ich auch heute nicht widerstehen kann. Ich werde
die Strecke ohne Pause fahren und erst oben etwas essen. Dazu habe ich reichlich
gefrühstückt, nämlich genau soviele Brötchen, wie man für ein 200g-Glas Nutella
braucht. Die Straße verläuft zunächst weitgehend gerade entlang eines Gebirgsbaches.
Die ersten der insgesamt knapp 50 Kehren liegen zuerst in recht großem Abstand
zueinander, aber auf halbem Weg, etwa ab Tafoi, beginnt sich die Straße in
einer endlosen Serpentinenserie hinaufzuschlängeln. Die meißte Zeit steigt
sie mit bequemen 5-7% und nur auf kurzen Stücken geht es mal auf oder über
10%. Man findet also gut seinen Rhythmus. Die zahllosen Serpentinen in der
zweiten Hälfte machen die Auffahrt zum Genuß. Von der Südseite drückt heute
eine Wolkenmasse gegen den Paß, die immer kurze und leichte Schauer über mich
hinwegschickt, dazwischen aber auch die Sonne hindurchkommen läßt. In diesem
Wechselspiel bewege ich mich bei rasch sinkender Temperatur dem Etappenziel
entgegen, das ich dann um 9.20 nach rekordverdächtigen 2:18 h erreiche. Damit
bleibe ich 7 min unter der Zeit vom Vorjahr. Oben sitzt der Nieselregen fest.
Es ist 4 Grad kalt. Ich muß eine Pause machen um etwas zu essen, wenn ich
nicht nach der Abfahrt, am nächsten für heute geplanten Paß, dem Passo Foscagno,
krachen möchte. Andererseits möchte ich nicht auskühlen. Bei der Temperatur
wird die Abfahrt zumindest im oberen Bereich nicht genießbar sein. Ich muß
hier weg, und zwar schnellstmöglich. Bis zum Abzweig Umbrail-Pass bremse ich
mich mit klammen Händen die feuchten und kalten Serpentinen auf 2500m hinunter.
Dann kommt eine langgezogene, kurvenlose Passage mit ca.7% Gefälle. Mehr als
80 km/h erreiche ich hier nicht aber das ist ausreichend, um schnell die Hochgebirgskälte
hinter mich zu bringen. Bald schließt sich eine Treppe aus vier oder fünf
schwungvollen Serpentinen an, die in einen schluchtartigen Talabschnitt hineinmünden.
Die Straße führt hier, geklebt an den rechten Rand der Richtung Bormio hinunterlaufenden
Schlucht, rasant talabwärts. Landschaftlich ist der Abschnitt grandios aber
er erfordert volle Konzentration. Seine Tücke liegt neben der Ablenkung in
den immer wieder kurvenlosen Abschnitten, die zu hoher Geschwindigkeit anstacheln
und dann in enge, unbeleuchtete, tropfende Tunnels münden. Schnell wird es
wärmer. Nach etwa 30min stehe ich auf etwa 1300m kurz vor Bormio am Abzweig,
der links zum Foscagno hinaufführt. Es hat nun 16 Grad und die Sonne drängt
durch eine hochliegende, dünne Wolkendecke, die stellenweise den Blick auf
den blauen Himmel freigibt. Schnell wird es jetzt, am fortgeschrittenen Vormittag,
wärmer und befreit von den Regensachen gehe ich nun mit guter Laune in den
nächsten Anstieg. Der Foscagno (2291m) empfängt mich mit einem Regenschauer,
dem ich nach kurzem Verweilen weiter Richtung Livigno davonfahre. Es geht
zunächst rasant wieder auf etwa 2000m hinab, wo sich unmittelbar der Anstieg
zum Passo d`Eira (2209m) anschließt. Die Gegend hier ist eine Zolloase. Sie
beginnt auf dem Foscagno, wo sich eine Zollstation befindet. Ihr Zentrum ist
das Tal von Livigno, ein Hochtal, das man daneben noch von Süden her über
den Focola di Livigno oder von der Schweiz her durch einen Tunnel betreten
kann. Der einzige Wirtschaftszweig in diesem Tal ist der Handel mit Spirituosen,
Parfüms und Taback. Die Straße ist auch in den höheren Lagen am Passo dŽEira,
vor allem aber unten in Livigno gesäumt von kleinen Lädchen, die immer samstags
ganze Blechlawinen von Einkaufstouristen anziehen. Samstags ist die Gegend
daher mit dem Rad kaum befahrbar.
Vom Passo d`Eira geht es hinunter
nach Livigno. Der Regen scheint oben am Foscagno hängen geblieben zu sein.
Von Livigno fahre ich dann am Stausee entlang Richtung Schweiz. Von hinten
kommen zwei laut schwatzende, buntgekleidete italienische Radfahrer, an die
ich mich für das längliche und gerade Stück am Westufer des Stausees enlang
hinten anhänge. Sie lassen mich gewähren. Der Tunnel hinüber in die Schweiz
hat einen gewissen Spaßfaktor. Er ist schmal und nur einseitig befahrbar aber
gut beleuchtet und belüftet und vom Untergrund her top. Er ist etwa 3 km lang,
und fällt mit etwa 2% ab. Fahrtwind verspürt man auch bei hoher Geschwindigkeit
kaum. Auf der anderen Seite stößt man auf die Schweizer Nationalstraße, die
von Zernez über den Ofenpaß hinab ins Vinschgau führt. Ich halte mich jedoch
links Richtung Zernez. Ein kleiner Zwischenpaß, der nocheinmal knapp 200 Höhenmeter
überwindet, ist noch zu bewältigen. Zernez erreiche ich gegen 14.00.
Heute gefahren: 110,27 km in 5:42
h Sattelzeit mit durchschnittlich 19,3 km/h über 3186 hm.
Samstag, 07.07.
Heute ist Ruhetag, übermorgen
Engadiner Radmarathon. Die Luft ist klar und erwärmt sich schnell. Der Morgen
geht schnell dahin. Mit der Wochenendausgabe der NZZ kann man in der Sonne
sitzend oder liegend einige Zeit verbringen. Die Fahrradkette müßte für morgen
gereinigt und geölt, die Reifen etwas aufgepumpt werden, aber ich habe dazu
keine Lust. Nach und nach schlagen weitere Marathonis ihr Lager um mich herum
auf. Sie verbreiten Geschäftigkeit. Liebevoll werden die mitgebrachten Räder
zusammengesetzt, geputzt, Speichen nachgespannt, Bremsen und Schaltungen nachjustiert.
Mich steckt das nicht an. Ich werde morgen mit schmutzigem und unjustiertem,
allenfalls geöltem Rad an den Start gehen. Es gibt auch keinen Plan, an welcher
Stelle und bei welcher Steigung ich mit welcher Übersetzung, Tritt- und Herzfrequenz
und Geschwindigkeit fahre und wieviele Kalorien, Wasser und Sauerstoff ich
dabei brauche. Ich weiß nichteinmal, wie schwer mein Rad ist und wieviele
Zähne die einzelnen Kettenblätter haben. Ich werde morgen ordentlich frühstücken
und als Verpflegung eine Doppelkeksrolle und zwei Flaschen Wasser mitnehmen.
Es gleicht schon einer Komödie, was im Hobbyrennsport so alles veranstaltet
wird. Die 300 Gramm, die mein Rad morgen dadurch schwerer sein wird, daß ich
die Steckschutzbleche und den Gepäckträger nicht abmontiere, sind mir egal.
Andere erlitten wahrscheinlich einen Herzinfarkt. Die Laune verdirbt es mir
nicht. Morgen steht ein schönes Rennen an, das jeder auf seine Art meistert.
Der eine mit einer Überdosis Verstand, der andere mit Zuversicht. Noch aber
ist es nicht soweit. Ich nehme mein Rad und mische mich in das bunte Treiben
draußen auf der Straße. Die Luft ist kristallklar und warm. Das Engadin zeigt
sich heute von seiner schönsten Seite. Mich zieht es zum Fluß. Der Inn ist
hier jung und reißend, sein in der Sommersonne funkelndes Türkisblau unbeschreiblich.
Ich folge ihm auf der Nationalstraße hinab nach Susch. Auch morgen wird es
hier entlang gehen. Das Rennen wird aus Richtung St Moritz am Inn hinunterkommend
nach etwa 90 km Zernez passieren und dann in Susch links zum Flüelapaß hinaufführen.
Susch ist mit seinem alten Dorfkern, der wuchtigen Kirche und der Hausbrücke
sehr pittoresk. Nach kurzem Verweilen kehre ich um, fahre durch Zernez hindurch
weiter den Fluß hinauf bis Brail. Dort ist die Straße zum Teil recht steil
und kurvenreich. Das Tal steigt hier am Übergang zwischen Unter- und Oberengadin
wie in einer riesigen Treppenstufe. Im Oberengadin herrscht die Besonderheit,
daß auch an warmen Sommertagen der Wind das Inntal hinunterweht. Die morgen
hier hinabführenden 25 km von Samedan bis Zernez und dann nocheinmal im Endspurt
von La Punt, der Talstation des Albulapaß bis zum Ziel nach Zernez werden
also mit Rückenwind verlaufen. Wenn man dem Inn hier weiter Richtung Südwesten
bis zu seiner Quelle, den Silvaplaner Seen folgt, ist man zugleich am Malojapaß
auf etwa 1800m Höhe. Dort fallen die Alpen steil Richtung Süden zum Comer
See ab. Der hier bei Sonnenschein Richtung Malojapaß hinaufjagende thermische
Wind setzt sich im Oberengadin das Inntal hinab bis nach Zernez fort. Heute
teste ich diesen Wind, indem ich mich von Brail zurück nach Zernez rollen
lasse. In Zernez macht das Inntal einen Knick nach links und läuft von dort
gerade nach Norden weiter. Nach Osten hin öffnet sich hier ein weiteres kleines
Flußtal, dem die Straße in Richtung Ofenpaß folgt. Von dort bin ich gestern
gekommen und dorthinein wird morgen früh das Rennen starten. Der taleinwärts
gerichtete Wind aus dem Oberengadin setzt kurz vor dem Ortseingangsschild
von Zernez plötzlich aus. Es ist kaum zu glauben, aber wenn man hier runterfährt,
wechselt der Wind innerhalb weniger Meter von Rücken in Gegenwind. Ich merke
mir die Stelle und werde sie auch am Folgetag während des Rennens genauso
wiedererleben. Inzwischen ist es Mittag. Ich setze mich in den Schatten vor
das Zelt und beginne über dem Feuletton der NZZ eine kleine Wassermelone auszulöffeln.
Eine nette Nachbarin bringt mir Spagetti mit Gemüsepfanne und griechischem
Salat. Ich werde mich später mit einer Flasche Wein revanchieren. Kurz darauf
trudelt Andreas ein, der nette Mountainbikefahrer mit der perfeken Ausrüstung,
den ich vor zwei Tagen in Pratt getroffen hatte. Wir hatten uns quasi hier
verabredet, weil wir in dieselbe Richtung unterwegs waren. Ich finde auch
das sehr nett und so sind wir bis morgen wieder Nachbarn. Wir setzen nun die
in Pratt begonnenen philosophischen Gespräche fort. Dann gehe ich los, um
für morgen die Startunterlagen zu holen. Hier muß ich sehr schmunzeln über
einen Geiz, wie er wohl einzigartig für die Schweiz ist: In der Tüte mit den
Startunterlagen befinden sich unter anderem Sicherheitsnadeln, mit denen die
Startnummer auf dem Trikot befestigt werden soll. Sie sind abgezählt und es
sind genau zwei. Die Startnummer aber hat vier Ecken und so begebe ich mich
auf die Suche nach zwei weiteren Nadeln. Üblicherweise steht bei solchen Veranstaltungen
irgendwo eine kleine Kiste, wo man sie sich herausnehmen kann, nicht so aber
in der Schweiz. Ich frage also die Mädels, die die Startunterlagen herausgeben
und bringe damit den gesamten Ablauf durcheinander. So bekomme ich drei weitere
Nadeln, die ich auch heute noch habe. Dann gehe ich zur Pastaparty. In den
Startunterlagen ist ein Gutschein für eine Portion. Es gibt auch wirklich
nur eine Portion.
Der Abend am Zelt klingt dann
nett aus. Ich leiste mir eine Flasche Wein, damit ich gut schlafen kann.
Heute gefahrene km: 35.
Sonntag, 08.07.
Der Start findet heute um 7.00
Uhr statt. Da ich vorher viel essen muß, stehe ich rechtzeitig auf. Draußen
steht die Sonne noch hinter den Bergen und es hat 7 Grad. Mein Frühstück sind
400g Nutella und die dazu erforderliche Menge Baguette. Das Glas habe ich
in der Nacht im Schlafsack gehabt, damit man das Zeug jetzt auch schmieren
kann. Alles ist soweit startklar. Am Vortag hatte ich es noch geschafft, die
Kette zu reinigen und zu ölen und mit Andreas Werkzeug war es gelungen, den
Zeitnahmechip, einen mit aktivem Sender, mittels Kabelbindern am Lenker festzumachen.
Die Doppelkeksrolle habe ich oben aufgeschnitten und die Wellpappe herausgezogen.
So stelle ich sie dann aufrecht in die Rückentasche vom Trikot. Daneben haben
dann noch zwei Riegel und zwei Tuben Gel Platz, die in der Tüte bei den Startunterlagen
waren und nun als Notverpflegung mit auf die Reise gehen. Dann nehme ich noch
mein rotes Portemomnnaie mit dem Schweizer Kreuz darauf mit, einen Ersatzschlauch
und drei Reifenheber, das Schweizer Taschenmesser sowie zwei gefüllte Trinkflaschen.
Im letzten Moment entscheide ich mich gegen die Jacke. Es ist zwar kalt, aber
das Rennen beginnt mit einem Anstieg Richtung Ofenpaß, auf dem es schnell
warm werden dürfte. Die erste größere Abfahrt würde vom Focola di Livigno
nach etwa 40 km, also schätzungsweise ab ca. 8.30 stattfinden und bis dahin
dürfte es warm genug sein. Auch wenn ich kein Planer bin, bin ich die Strecke
vorher grob durchgegangen. Ein Topergebnis habe ich mir nicht vorgenommen
aber etwas mehr, als nur dabeigewesen zu sein, sollte schon herauskommen.
Im Startbereich würde dafür wenig zu machen sein, denn die etwa 1500 Starter
waren je nach ihren Ergebnissen bei bisherigen Rennen in Blöcke eingeteilt.
Da ich nichts vorzuweisen hatte, stand ich ziemlich weit hinten, im Block
3 von 4. Ein Anhängen an die Spitze mußte also von vornherein ausscheiden.
Außerhalb der steilen Passagen in den Anstiegen und Abfahrten gibt es aber
auf der Strecke viele Abschnitte, in denen es entscheidend sein wird, in einer
schnellen Gruppe zu fahren. Das wäre zunächst der Teil beginnend mit dem Tunnel
Richtung Livigno nach bereits 10km, wo auf eine Strecke von etwa 20 km bis
hinein in den Focola di Livigno bei geringer Steigung in einer gut zusammenspielenden
Gruppe scharfes Tempo bei gemäßigter Anstrengung möglich ist. Richtig entscheidend
würde dann aber die etwa 50 km lange Abfahrt vom Berninapaß bis Susch sein.
Für diese, bei km 48,5 beginnende Passage in eine schnelle Gruppe hineinzukommen,
war vom Start an mein Ziel. Etwa beim Berninapaß würde ich dann auch die ersten
Kekse essen und mit dem Wasser versuchen bis hinunter nach Susch zu kommen,
wo es am Abzweig zum Flüelapaß am Straßenrand einen Brunnen gibt.
Startschuß. Die Masse setzt sich
zäh in Bewegung und es dauert einige Minuten, bis man halbwegs freie Fahrt
hat. Am ersten Anstieg aus Zernez hinaus zieht sich das Feld schnell auseinander.
Ich finde meinen Rhythmus und versuche, möglichst viel Boden zu gewinnen,
ohne dabei an die Grenze zu gehen. An immer wieder neue locker gefügte Fahrerhaufen
arbeite ich mich von hinten heran. Irgendwo da vorne ist der Zug, auf den
ich aufspringen möchte. In der ersten kleinen Abfahrt hinunter zum Tunnel
Richtung Livigno reißen die Fahrerfelder schnell auseinander. Die meisten
fahren hier sehr vorsichtig. Selbst fühle ich mich recht sicher in dem rasanten
Tempo, das ich hinunterwärts einschlage und dabei weit schneller bin, als
die anderen. Mich wundert das, bin ich doch sonst, wenn ich auf Bergabfahrten
unterwegs bin, eher derjenige, der von anderen überholt wird. In den Tunnel
hinein, wo die Straße wieder beginnt zu steigen, gehe ich auf äußerste Kraft,
weil ich eine Gruppe voraus habe, die zügig zu fahren scheint. Enttäuschend
schnell komme ich heran, enttäuschend deshalb, weil sie nun offensichtlich
doch nicht so zügig fährt, wie es im ersten Moment schien. Aber hier bleibe
ich. Nach dem Tunnel gibt es immer wieder Leute, die versuchen, die Gruppe
auf Tempo zu bringen. Zum Teil gelingt das und in der Spitze laufen die Führungswechsel
dann auf längeren Streckenabschnitten auch recht gut. Hier mische ich mit
so gut ich kann aber die Dynamik bricht immer wieder deshalb zusammen, weil
es am Ende immer weniger Leute werden, die sich die Führungsarbeit teilen.
Dann bleibt über die folgenden Kilometer erstmal wieder jeder Versuch, durch
Vorpreschen einige Leute mitzuziehen unbeantwortet, aber ich glaube, in Livigno
hat sich dann doch der schnellere Teil der Gruppe nach vorne abgesetzt. Viel
hat es nicht genützt, denn der nun folgende Anstieg in den Focola di Livigno
mischt die Karten neu. Die Steigung über die knapp 400 Höhenmeter hinauf zum
2315 hohen Focola ist mit 5-7% auch bei angespanntem Tempo recht gut zu fahren.
Das Wetter zeigt sich inzwischen von seiner guten Seite. Der gestern zurückgekehrte
Sommer soll sich nach den Prognosen auch heute noch halten, jedoch soll es
bereits im Vorfeld der für morgen angekündigten Kaltfront auch schon erste
Schauer geben. So wie ich heute in das Rennen gegangen bin, werde ich bei
Regen oder Kälte die Veranstaltung abbrechen müssen. Die Hoffnung, daß es
dazu nicht kommt, bleibt also bis zum Schluß mein Begleiter. Unbeschwert lasse
ich mich in die Abfahrt vom Focola di Livigno hineinrollen und gewinne dabei
viel Boden. Serpentinen gibt es hier kaum, die Kurven sind alle einsehbar
und dort, wo kein Gegenverkehr herrscht, schneide ich sie. Regelmäßig überschreite
ich die 80km/h. Üblicherweise ist das nicht mein Tempo, aber heute ist Radrennen.
Auf etwa 2000 Höhenmetern erreicht die Abfahrt einen Talgrund, von wo sie
dann eben bis zur Schweizer Zollstation ausläuft, bevor die Straße auf den
Anstieg in den Berninapaß trifft. Den Talgrund kann man in der Abfahrt vom
Focola schon von weit oben sehen. Die Straße beschreibt hier eine halbkreisförmige
Linkskurve, in deren Scheitelpunkt sie mittels einer kleinen Brücke einen
sich durch das Geröll ziehenden Graben überwindet. Die Kurve wird durch eine
Leitplanke gesichert, die jedoch erst nach einem Drittel beginnt. Ich weiß
nicht, wie schnell ich in diese Kurve hineingefahren bin aber wahrscheinlich
habe ich vorher abgebremst. Es war aber noch zu schnell, denn ich komme bereits
am Kurveneingang immer weiter an den Rand und bekomme den Kurs schließlich
nicht mehr korrigiert. Noch bevor die Leitplanke anfängt, fahre ich aus der
Kurve raus und bewege mich nun auf geschottertem Untergrund parallel zur Straße
jenseits der Leitplanke. Die Kurve habe ich wieder korrigieren können, denn
das von der Straße weg ansteigende Gelände wirkt wie eine Steilkurve. Ich
bekomme Angst, auf dem Schotter zu stürzen. Die schmalen Reifen und die noch
recht hohe Geschwindigkeit machen das sehr wahrscheinlich. Die Bremsen scheine
ich in diesem Moment bereits bis zum Anschlag angezogen zu haben, aber kein
Reifen blockiert. Ich habe Angst, daß er blockiert, daß er am Geröll aufreißt,
daß die Felge zerfetzt wird, daß ich stürze. Das alles dauert sehr lange.
Dann sehe ich, wie von links die Leitplanke und von vorne der Graben immer
näher kommen. Auf der anderen Seite, der Straßenseite, fährt gerade ein Marathoni
vorbei. Im Vorbeifahren erzählt er mir, daß genau dies, was mir jetzt gerade
passiert, im letzten Jahr in dieser Kurve auch passiert sei. Eigentlich war
der Moment gar nicht so lang, daß er mir dies hätte erzählen können. Aber
vielleicht kam er auch erst in dem Moment vorbei, in dem ich bereits zum Stehen
gekommen war. Dabei lehnte ich von außen an der Leitplanke. Eine Handbreit
vor dem Vorderrad begann der Graben. Das alles ging so schnell, daß ich erst
jetzt die Klickpedale lösen konnte. Wäre also hier die Leitplanke nicht gewesen,
wäre ich jetzt einfach umgekippt. Für die Verarbeitung dieses Ereignisses
ist jetzt keine Zeit. Ich steige ab, hebe das Rad über die Leitplanke, nehme
ungläubig zur Kenntnis, daß der Reifen unbeschädigt ist, das Laufrad keinen
Schlag bekommen hat und an mir noch alles dran ist und nehme das Rennen wieder
auf. Etwa 20 sec. dürfte ich verloren haben. Hinter der Zollstation ist der
Anstieg hinauf zum Berninapaß immer wieder gesäumt von applaudierendem Publikum.
Viele Teilnehmer haben hier Freunde und Verwandte postiert, die ihnen neue
Trinkflaschen, Bananen oder Powerriegel reichen. Oben auf dem Paß ist die
zweite Verpflegungsstation, man nennt das hier Labe. Viele machen hier einen
kurzen Stopp. Wasser läßt sich auffüllen, es gibt belegte Brote und Obst.
Aber für mich habe ich einen Stopp ausgeschlossen. Ich habe die Doppelkeksrolle,
an die ich nun plangemäß herangehe und auch der Wasservorrat dürfte noch die
reichliche Stunde bis Susch genügen. Die Abfahrt beginne ich allein. Weit
und breit ist keine Gruppe zu sehen. Von hinten in eine Gruppe hineinzuspringen,
erscheint aussichtslos. Mit hohem Tempo gehe ich in die Abfahrt. Noch ist
es steil und kurvenreich. Noch etwa 5 km und ein Team wäre hilfreich, denn
den unteren Teil der Berninapaßabfahrt bis zur Einmündung in das Inntal bei
Samedan habe ich aus der Vergangenheit als gegenwindig mit recht geringem
Gefälle in Erinnerung. Bis dorthin geht es aber zunächst rasant mit gefährlichen
Kurven bergein. Hier zeigt sich auch die sehr gute Organisation des Rennens,
denn überall an den gefährlichen Stellen stehen Streckenposten mit Fahnen
und Pfeifen. Nach dem Rennen müssen sie wohl mindestens genauso platt sein
wie die Fahrer. Den ganzen Tag zu pfeifen erfordert wahrscheinlich ebensoviel
Atem. Parralel zur Straße läuft hier die Berninabahnstrecke über den Paß.
Es dürfte wohl hier die höchste Eisenbahnstrecke Europas sein, technisch eine
Meisterleistung. Ab und zu gibt es Bahnübergänge und hier ist es richtig gefährlich.
Meine Abfahrt jedoch wird dadurch nicht unterbrochen. Die Bahnschranken sind
mir freundlich gesinnt. Im flacheren Teil der Abfahrt schließe ich mich mit
einem Österreicher zusammen, was ich an der Trikotaufschrift erkenne. Zum
Reden haben wir zuwenig Puste, denn wir versuchen nun zu zweit, das beste
aus der Abfahrt hinauszuholen. Ab und zu überholen wir einzelne Radfahrer
aber eine Gruppe kommt nicht zustande. Keiner schließt sich an. Irgendwo bei
Pontresina werden wir dann durch eine von hinten kommende Gruppe aufgerollt,
in die wir uns eingliedern. Wir haben also für umsonst gekämpft. Diese Gruppe
nun fährt recht rasant und es gibt immer wieder Situationen, wo sie zu zerreißen
droht. Hier ist harte Arbeit gefragt, dranzubleiben. In einer Situation, wo
wir von hinten an eine langsamere Gruppe heranrollen, wird es leicht brenzlig,
denn plötzlich mußte man sich dort den Weg hindurchbahnen, um nicht den Anschluß
zu verlieren. In dieser Tempogruppe bleibe ich dann bis Zernez, wo sie sich
auflöst, weil für die meisten hier die Veranstaltung wohl der Endspurt der
hier schließenden 97 km Runde war. Nach dieser kleineren Runde waren 1325
der insgesamt auf den 211 km zu überwindenden 3827 Höhenmeter geschafft. Nun
ging es in lockerer Formation noch die 7 km hinunter nach Susch, wo der erste
richtige Paßanstieg dieses Tages begann: von 1426m hinauf auf den 2383m hohen
Flüelapaß. Vorher fülle ich noch schnell wie geplant am Brunnen die Trinkflaschen
auf und gehe den Anstieg an. Ein leichter Hänger macht sich bemerkbar. Immer
wieder muß ich Fahrer, die von hinten herankommen, vorbeiziehen lassen, aber
irgendwie habe ich die Ruhe, mich dadurch nicht aus dem Takt bringen zu lassen.
Immer wieder versuche ich, langsam eine Temposteigerung aufzubauen und komme
zu recht nachhaltig wirkenden Ergebnissen. Die Rampe ist teils gnadenlos steil
mit längeren Passagen, die die 10% überschreiten. Immer wieder kann ich Angriffe
fahren, lasse sie dann nach dem inneren Signal des Körpers zusammenbrechen,
reduziere eine Zeitlang das Tempo und baue dann, wenn der Körper es erlaubt,
die nächste Aktion auf. In diesem Wechselspiel beiße ich mich die knapp 1000
Höhenmeter hinauf. Ich weiߎnicht mehr, wie lange es gedauert hat. Unter normalen
Umständen lag bis jetzt mit Gepäck mein Steigungstempo immer bei etwa 700
Höhenmetern pro Stunde; am Stilfserjoch vor drei Tagen hatte ich sogar knapp
800 geschafft. Ich halte es für möglich, daß ich heute die 957 Höhenmeter
hinauf zum Flüelapaß unter einer Stunde gefahren bin. Auf der Paßhöhe löst
sich das Feld wieder auf. Viele fahren rechts raus zur Labe und so gehe ich
allein in die zunächst wieder rasant steile Abfahrt. Ich bremse nur, wenn
es absolut notwendig ist und auch hier mache ich wohl einiges an Boden gut.
Unten in Davos mache ich vor mir wieder eine Gruppe aus. In der Abfahrt habe
ich mich ausreichend regeneriert und setze nun zur Verfolgung an. Wieder einmal
enttäuschend schnell bin ich hinten dran. Vielleicht läßt sich hier noch mit
einigen Leuten was reißen. Ich rolle also links vorbei, setze mich vorne ran
und erhöhe das Tempo wieder in der Hoffnung, daß jemand mitgeht. Es ist sehr
zäh aber langsam gelingt es mir, noch ein paar Leute für schärferes Tempo
zu mobilisieren, das auch dann kurzzeitig erhalten bleibt, wenn ich aus der
Führung rausgehe. So richtig viel bringt es mir aber nicht. Zu wenige ziehen
nur zu kurz mit und die Führungsarbeit ist wieder viel zu schnell bei mir.
Ich möchte nicht Lokomotive für einen trägen Haufen spielen aber ich bleibe
in der Gruppe. Es ist wohl so, daß ich jetzt gerade nach der Anstrengung des
Flüelapasses und der Erholung in der Abfahrt, vielleicht aber auch wegen der
Doppelkekse, die die anderen nicht hatten, zu Höchstform auflaufe, während
andere gerade an ihren letzten Reserven zehren. Etwa 30 km geht es nun hinter
Davos auf der Landwasserstraße zunächst mit mäßiger Steigung und längeren
geraden Abschnitten hinauf nach Schmitten und dann wieder hinab nach Alvaneu
Bad auf knapp 1200m, wo der Königsanstieg des heutigen Tages, hinauf zum Albulapaß
(2315m) beginnt. Lange Passagen über 10% sind hier zu bewältigen aber die
Konstrukteure haben auch weniger steile Stücke in die Rampe hineingebaut,
wo man sich dann bei etwa 5-7% Steigung ausruhen kann. Meine Hochform setzt
sich auch in diesem Teil fort. Stetig vorbei an einer sich müde den Hang hinaufquälenden
Masse wechsle ich mir mit einem Luxemburger, mit dem ich dann auch später
zusammen ins Ziel fahre, immer wieder gegenseitige Angriffe. Mal geht der
eine 200m vor, dann wieder der andere. Die Angriffe baue ich wie am Flüelapaß
langsam auf und fahre sie nach einer Zeit wieder zurück. Nur habe ich das
Gefühl, daß dieses Wechselspiel hier auf deutlich höherem Ausgangsniveau stattfindet.
Auch in den Leistungstälern lasse ich andere links liegen. Niemand anderes
kommt an mir vorbei, als der Luxemburger. So vergeht die Auffahrt wie im Flug.
Von der Paßhöhe sind es noch etwa 30 km bis Zernez. Oben muß ich nochmal Wasser
tanken. Auf der Zielgeraden möchte ich jetzt nichts mehr anbrennen lassen.
Gewohnt rasant gehe ich in die Abfahrt und hole den Luxemburger wieder ein,
der mir beim Wasserfassen davongefahren ist. Er fährt noch mit einem anderen
zuammen. Ich schließe mich den beiden an, denn die letzten 20 km von La Punt
läßt sich zusammen auf jeden Fall noch etwas machen. So gehen wirs zusammen
an, wechseln uns sauber in der Führungsarbeit ab. Etwa einen halben Kilometer
vor uns fährt eine größere Gruppe aber wir kommen da nicht ran. Der Luxemburger
hat noch richtig Kraft und bleibt jedesmal ungewohnt lang in der Führung.
Der dritte im Bund scheint dann irgendwann abgefallen zu sein. Zu zweit jagen
wir also dem Ziel entgegen und leisten uns zum Teil halsbrecherische Manöver
beim Überholen von Autos. Die Fahrer sind extrem rücksichtsvoll, gehen rechts
ran, wenn sie sehen, daß ein Radfahrer vorbei will. In Deutschland wäre das
nicht passiert. Um 14.21 rolle ich nach 7:18:27 h hinter dem Luxemburger ins
Ziel. Nach einigem Hin und Her in der Rangliste bleibt es für mich schließlich
bei Platz 70 von insgesamt 789 Fahrern der langen Strecke.
Es war ein guter Tag, denn ich
habe nicht nur das mir selbst gesetzte Zeitlimit von 8 Stunden deutlich unterboten.
Ich denke auch an den Beinahe-Unfall in der Kurve am Focola di Livigno. Er
hätte mich das Leben kosten können. Was ich in diesem Moment noch nicht wußte,
ist, daß genau dies einem anderen dort heute passiert ist. Aber auch ohne
dieses Wissen hielt ich es an diesem Nachmittag für geboten, einen längeren
Augenblick in Stille allein mit mir selbst zu verbringen und ich habe das
auch getan.
Zum Abend hin kehrt Ruhe ein in
Zernez. Die Marathonis brechen ihre Zelte ab, sobald sie nach der Zieleinkunft
dazu in der Lage sind. Den Abend verbringe ich dann im netten Plausch mit
meinen Zeltnachbarn bei ein paar Flaschen Wein.
Heute gefahren: 215 km in 7:18:13
h Sattelzeit mit durchschnittlich 29,4 km/h über 3803 hm.
Mo. 09.07.
Heute ist mein Geburtstag und
nach der ursprünglichen Planung wollte ich den Tag aussetzen, was ich jedoch
bereits am Vortag korrigiert hatte. Die seit Tagen angekündigte Kaltfront
macht sich bereits in der Nacht mit Regenschauern bemerkbar, die jedoch zum
Morgen hin abklingen. Der Tag beginnt mit kühler, wenig bewegter Luft, auf
der in größerer Höhe ein grauer Wolkenschleier schwimmt, hinter dem man die
aufsteigende Sonne erahnen kann. Es sind ergiebige Niederschläge angesagt,
auch für die Alpensüdseite. Die sicherste Variante wäre nun, die 30 km bis
zum Malojapaß und von dort zum Comer See hinab zu fahren und dann mit hohem
Tempo Richtung Süden zu versuchen, dem Einflußbereich der heranrückenden Front
zu entgehen. Noch sicherer wäre es gewesen, noch am Vortag unmittelbar nach
dem Rennen die Zelte hier abzubrechen und Land Richtung Süden zu gewinnen
aber ich hatte diese Variante trotz sicheren Wissens, was heute passieren
wird, nicht ernsthaft in Betracht gezogen. Gestern war gestern und heute ist
heute. Gestern war es nicht angezeigt, den Ort, der mir einen so guten Tag
beschert hat, in Flucht zu verlassen. Auch heute ist mir noch nicht so zumute
und daher stand von Beginn an fest, daß ich nicht den direkten Weg über den
Malojapaß in den Süden nehme. Ich werde vielmehr über den Albulapaß nach Tiefencastel
und Thusis hinunterfahren und dann die Viamala bis hinauf auf den San Bernardino
nehmen. Dieser sich von Thusis über etwa 35 km zunächst durch die Schlucht
und dann auf etwa 1600m zur Quelle des Hinterrheins langsam hinaufziehende
Anstieg, der dann sein Finale in den nahezu sanften Serpentinen des San Bernardino
findet, einem Paß von sehr lieblichem Ambiente ist mein Favorit unter den
vielen möglichen Wegen auf die Alpensüdseite. Ich bin ihn in der Vergangenheit
immer wieder gern gefahren und möchte ihn auch heute nicht missen. Es ist
noch früher Morgen und ich hege die Hoffnung, die Höhe des San Bernardinopasses
noch vor dem Wettersturz zu überqueren. Gegen 8:10 Uhr verlasse ich Zernez
Richtung Albulapaß. Die 30 km und etwa 1000 Höhenmeter sind in knapp zweieinhalb
Stunden erledigt. Wie ich oben ankomme, beginnt leichter Nieselregen. Der
Himmel ist inzwischen durchgängig grau aber die Wolken scheinen noch recht
hoch zu liegen. Ich halte mich nicht lange auf und gehe sofort in die Abfahrt
nach Tiefencastel. Immer wieder durchquere ich Schauerzellen, die an Stärke
zunehmen. Noch hoffe ich, im wesentlichen trocken über die Runden zu kommen
und meine daher, den Schauer hier aussitzen zu können. Ganz schlüssig ist
das nicht, denn nach aller Erfahrung konnte es ab jetzt nur noch schlimmer
werden. In Tiefencastel warte ich eine Zeitlang, sitze auf einer Bahnhofsbank
und lese in meinem Buch. Dann sieht es wirklich wieder heller aus; der Regen
scheint sich abzuschwächen und ich fahre weiter hinunter nach Thusis aber
es ist nur eine kurze Regenpause. Ich werde richtig naßgeschüttet, gebe aber
noch die Hoffnung, heute noch über den San Bernardino zu kommen, nicht auf.
Die ersten Kilometer entlang der Viamala bestärken dies, der Regen schwächt
sich zwischenzeitlich ab. Kurz vor Zillis beginnt es zu schütten und ich rette
mich in den Fahrzeugunterstand einer Spedition. Die Regenjacke ist bereits
durch. Schnell streife ich sie ab, hole das Vlies aus der Tasche, um nicht
auszukühlen. Nach einer Zeit schwächt sich der Regen ab und ich gehe wieder
auf die Piste, wo ich etwa 8 km schaffe, bis es wieder satt schüttet und ich
mich in das Gasthaus an der Rofflaschlucht rette. Hier warte ich im Gang aber
es wird nicht besser und ich beginne auszukühlen. Also setze ich mich hinein
und bestelle Spaghetti. So vergeht die nächste Stunde, nach der sich der Regen
soweit abgeschwächt hat, daß ein Weiterfahren möglich erscheint. Tatsächlich
hört er nach einer Zeit sogar ganz auf aber ich schaffe nur etwa 10km bis
Splügen, wo ein mittelstarker Dauerregen einsetzt. Es ist 16.20 Uhr. Jetzt
bräuchte ich nur noch etwa 2 Stunden, um den San Bernardino zu überqueren,
doch die sind mir heute nicht vergönnt. Ich warte im Vorraum der Poststation.
Der ist beheizt. Draußen zeigt das Thermometer nur noch 8 Grad. Auf der Paßhöhe,
so schätze ich, wird es jetzt keine 4 Grad mehr haben. Selbst wenn es mir
gelänge, mich durch den Regen dort hochzuarbeiten, würden spätestens mit Beginn
der Abfahrt alle Würfel gegen mich fallen. Ich muß hier bleiben. Dies ist
der letzte Ort mit Übernachtungsmöglichkeit- sogar einem Campingplatz.
Es ist nun 17.00, die Entscheidung,
hier zu bleiben, gefallen. Etwa eine Stunde später läßt der Regen soweit nach,
daß ich das Zelt aufbauen kann. Es gibt hier einen Gemeinschaftsraum, wo ich
die nassen Klamotten zum Trocknen ausbreite.
Heute gefahren: 100 km in 4:38
h Sattelzeit mit durchschnittlich 21,5 km/h über 1931 hm.
Dienstag, 10.07.
Immer wieder gibt es in der Nacht
Regen aber zum Morgen hin stabilisiert sich die Lage und als ich gegen 7.15
Uhr den Platz verlasse, macht sogar die Sonne Anstalten, sich zu zeigen. Die
Luft ist kalt, der Boden voll Feuchtigkeit und die Berge ringsum ab schätzungsweise
2000m mit einer Neuschneedecke überzogen. Hier in knapp 1500m Höhe zeigt das
Thermometer 5 Grad. Meine Sachen und auch die Schuhe sind über Nacht halbwegs
getrocknet und so gehe ich mit neuer Kraft in die Pedalen. So ganz ist dem
Frieden nicht zu trauen. Zu dick sind die grauen Wolkenfelder, die sich hoch
oben an den Bergflanken tummeln und den Durchbruchsversuchen der Sonne alsbald
ein Ende bereiten. Das Antliz, mit dem mir diese Gegend an diesem Morgen begegnet,
war mir bis heute fremd. Wann immer ich hier war, leuchteten die liebevoll
gepflegten Bergwiesen unter einer warmen Nachmittagssonne in einem sehr intensiven,
keineswegs aber satten Grün. Es ist ein Grün, wie man es nur hier zu sehen
bekommt, ein Grün, das in seinem Kontrast zum Blaugrün der Wälder, zum Grau
der Felsabschnitte in den Berghängen und zum tiefen, klaren Blau eines sommerlichen
Nachmittagshimmels märchenhaft wirkt. Es ist einer der Gründe, warum ich gerade
hier lang fahren mußte. Heute morgen ist von diesem Grün nichts zu sehen.
Es liegt unter Dunst und Schnee. Die sonst so klaren Konturen der Berge, die
sich zu beiden Talseiten in greifbarer, keineswegs aber schwindelerregender
Höhe erheben, verschwimmen heute. Zwei Stunden brauche ich, um den San Bernardino
zu überqueren und es sieht so aus, als würde es zu einem Wettlauf werden.
Ich gebe also was geht, bewege mich mit großem Tempo auf der kleinen Nebenstraße
neben der Autobahn, die dann alsbald, kurz hinter Hinterrhein im Tunnel verschwindet,
bis zum Ende des Talgrundes, wo die letzten 400 Höhenmeter Anstieg hinauf
zum San Bernardino beginnen. Immer wieder werde ich von kleinen Schauerzellen
gestreift, aber heute lasse ich mir den Sieg nicht nehmen. Sie sind nur kleine
Ausläufer des Unheils, das sich nun unter meinen Augen erneut beginnt, auf
der Alpennordseite zusammenzubrauen. Kurz vor der Paßhöhe schlägt der Niederschlag
in leichten Schneefall um. Das Thermometer zeigt zwei Grad. Oben, auf 2065
m, erwartet mich eine verschneite Landschaft aber zwischen den Dunstschleiern
öffnet sich der Blick in das Tal vor mir. Ich sehe grüne Berghänge, die in
mildes Sonnenlicht getaucht sind. Es sieht paradiesisch aus. Ich wende mich
zurück. Dort steht die dunkelgraue Wolkenwand, aus der kleine Schneeflocken
herabsinken. Trotz der Kälte komme ich nicht umhin, dieses Kontrastspiel eine
Weile zu betrachten.
In der Abfahrt wird es schnell
wärmer. Den Dunst habe ich bereits nach wenigen Metern hinter mir und bewege
mich nun in zwar kühler, jedoch sonnendurchfluteter Vormittagsluft. Der erste
Ort nach der Paßhöhe, das auf 1600m gelegene San Bernardino wirkt schmucklos
und noch keineswegs südländisch. Mehr als 15 Minuten Abfahrt waren es bis
hierher nicht. Die Temperatur jedoch hat sich bereits auf 10 Grad verfünffacht.
Nach kutzem Wiederanstieg fällt dann die Staße steil hinab ins Tessin. Nach
weiteren 30 min ist der Talgrund erreicht. Dort herrschen sommerliche 25 Grad:
Vier Jahreszeiten in weniger als einer Stunde. Bis Bellinzona bleiben noch
etwa 20 km. Gegen 11:00 Uhr fahre ich dort ein. Der Süden ist nun endgültig
erreicht. Ich habe nun vor, am Ostufer des Lago Maggiore entlang bis hinein
in die Poebene zu fahren. Mit dem Fahrrad ist einige Navigationskunst gefordert,
wenn man ohne Benutzung der Schnellstraße Richtung Lugano aber auch ohne größere
Umwege an den Beginn jener kleinen, landschaftlich reizvollen Seestraße
gelangen möchte, die dann über etwa 80 km den Lago Maggiore nach Süden begleitet.
Das einfachste ist es wohl, ausgehend vom Stadtzentrum nach Nordwesten hin
den Fluß Ticino und die Autobahn in Richtung Monte Carasso zu überqueren.
Dies ist beschildert und leicht zu finden. Wenn man dann auf der Hauptstraße
bleibt, führt die Beschilderung weiter Richtung Locarno. Die Straße ist hier
mäßig befahren. Sie führt parallel zum Ticino etwas oberhalb des Talgrundes
über einiges Auf und Ab und durch zahlreiche Orte. Nach etwa 10 km stößt man
dann auf die Hauptstraße, die Locarno mit der Achse Bellinzona-Lugano verbindet.
Hält man sich hier links, Richtung Lugano-Bellinzona, überquert man alsbald
wieder den Ticino, hinter dem dann unmittelbar nach rechts der Abzweig der
Seestraße Richtung Luino kommt. Diesen Wegabschnitt erreiche ich kurz vor
Mittag. Der Himmel hat sich inzwischen mit einer hochliegenden dünnen Wolkendecke
überzogen. Nur diffus gestreutes Sonnenlicht erreicht den Boden, jedoch hält
sich die Temperatur bei 25 Grad. Die hinter mir in den Alpen aktive Kaltfront
sorgt für einen Fallwind entlang des Sees in meine Richtung, den ich dankbar
annehme.
Das südliche Flair der italienischen
Seenlandschaft ist nach dem gestrigen Tag und dem Wintererlebnis von heute
morgen ein Genuß. Bis Laveno führt die Straße an dem relativ steil in den
See hinabfallenden Berghang in einem sanften Auf und Ab recht nah am Ufer
entlang. Sie ist gesäumt von langezogenen Orten und recht harmonisch in die
Uferlinie eingefügten, Villen, Gärten, Terassen und Bootshäusern. Trotz der
starken Kultivierung wirkt die Uferlinie keineswegs überladen. Die Fahrt ist
mit ihren ständig wechselnden Perspektiven auf den See und den sich immer
wieder auftuenden Sichtachsen auf das gegenüberliegende Ufer mit den markant
sich heraushebenden gewachsenen Stadtkernen kurzweilig. Ab Laveno flachen
dann die Berge an beiden Ufern ab. Die Landschaft weitet sich und beginnt
bereits hier, den aus einer Gliederung in kultivierten Wald, Feld und ungeordnete
Bebauung bestehenden Charakter der sich südlich des Sees bis Novara anschließenden
Endmoränenlandschaft anzunehmen. Es geht auf und ab und von Zeit zu Zeit öffnet
sich der Blick auf den rechts liegenden See mit seinem immer sanfter, aber
auch brackiger werdenden Uferbereich. Über mir liegt hochoben der dünne Wolkenschleier.
Wenn ich zurück in die Berge schaue, wird er undurchdringlich. Das diffuse
Sonnenlicht erreicht dort hinten den Boden nicht mehr. So wie es aussieht,
beginnt der kalte Arm der in die Alpen eingedungenen Front nun auch mit Regen
ins Tessin hineinzugreifen. Mich jedoch wird er nicht mehr erreichen. Nach
Süden hin ist der Himmel zweigeteilt. Der Wolkenschleier endet in einer scharf
gezogenen Linie, die in halber Höhe quer über den Himmel läuft. Darunter leuchtet
gelblich eingefärbtes Blau.
Das Ende des Lago Maggiore markiert
ein Ort Namens Sesto Calende. Hier durchquert die Seestraße zunächst die
sich über den südlichen Ablauf des Sees spannende rostige Eisenbrücke, um
sich dann rückseitig in einem Bogen auf diese hinaufzuschwingen. Am Südstumpf
des Sees geht es dann kurz durch ein riesiges, verstaubtes Einkaufs- und Gewerbegebiet
in östliche Richtung auf die von Nord nach Süd laufende Staatsstraße nach
Novara. Sätestens hier beginnt der nächste Abschnitt der Reise. Im Normalfall
ist es hier brechend heiß. Zunächst steigt die Straße sanft auf eine Endmoräne
hinauf. Die knapp 30 km bis Novara verlaufen heute auf der schnurgeraden,
ab und zu durch Kreisel unterbrochenen Straße bei anhaltendem Rückemwind und
mäßigen 25 Grad zügig und ereignislos. Die Landschaft wirkt lieblos zersiedelt.
In Novara, einer im Stadtkern imperial wirkenden und inzwischen patinaüberzogenen
und den Charm des Verflossenen verbreitenden Stadt, hatte ich bisher stets
Schwierigkeiten, nach der Durchfahrt im Süden den richtigen Ausgang, die S211
Richtung Mortara zu finden. Heute gerate ich, noch vor dem Ortseingang einem
Wegweiser nach Mortara folgend, auf eine vierspurige Umgehungsstraße, die
ich mit gemischten Gefühlen annehme. Um nicht als Radfahrer aufzufallen, erhöhe
ich das Tempo. Nach etwa 30 min ist der Spuk vorbei und ich befinde mich,
mit gutem Zeitgewinn am Südende der Stadt, wo ich die verbleibenden 24 km
nach Mortara angehe. Die Landschaft beginnt hier, einen feinsinnigen Charme
zu entwickeln. Auf den ersten Blick trostlos, fällt bei näherem Hinsehen auf,
daß die ungeornete Bebauung hier stark zurückgeht. Die Straße führt durch
gewachsene, verschlafen wirkende Orte mit schmucken, in ihrem Glanz verblaßten
Barockkirchen, deren Türme in der flachen, sumpfigen Ebene weithin sichtbar
sind. In Mortara halte ich mich rechts Richtung Casale Monferrato, biege dann
aber nach etwa 5 km nach Süden auf die S494 Richtung Valenza ab. Die Straße
ist recht schmal und kaum noch befahren. Sie paßt zu der inzwischen sehr verlassen
wirkenden Gegend, endlosem Sumpfland, durch das sie sich schnurgerade Richtung
Süden zieht. In den Orten, die ich durchquere, scheint die Zeit stehengeblieben
zu sein. Großzügige Bauten künden vom Reichtum vorangegangener Jahrhunderte.
Massiv ummauerte Arreale an den Ortsrändern haben schicke barocke Eingangspforten,
aus denen Alleen hinausführen. Was aus der Ferne wie eine Festungsanlage aussieht,
erweist sich bei näherem Hinsehen als Friedhof. Ich meine, daß ich die Gegend
zu schnell durchquere und ein Verweilen hier lohnend sein könnte. Kurz vor
dem Po, unmittelbar hinter Torre Beretti, macht die Straße einen scharfen
Knick nach rechts und schwingt sich dann auf die Eisenbrücke über den Fluß.
Das breite Bett ist nur zum Teil mit Wasser gefüllt. Ich überlege, ob ich
für die Nacht hier bleibe. Inzwischen ist der Nachmittag fortgeschritten und
in der Weiterfahrt Richtung Valenza ist nach kurzer Strecke ein Campingplatz
ausgeschildert. Die Lust am Weiterfahren paart sich aber mit dem Erfordernis,
noch etwas einkaufen zu müssen. Wenige km später, in Valenza, fasse ich Vorräte
und beginne nun, über meinen Verbleib für die Nacht nachzudenken. Es geht
weiter. Ich werde mir einen Wald suchen. Hinter Valenza komme ich in eine
mit herrschaftlichen Villen bebaute, in gelbe Felder, Waldstücke und Obsthaine
gegliederte markante Hügellandschaft, von deren Erhebungen nach Süden hin
bereits die Appenien sichtbar werden. Die Gegend ist aber zu kultiviert, als
daß ich hier einen Platz für die Nacht finden könnte. So fahre ich noch die
etwa 15 km nach Alessandria hinein. Auch hier hatte ich in der Vergangenheit
stets Probleme, nach der Stadtdurchfahrt im Süden die richtige Ausgangsstraße
zu finden. Wegweisungen sind hier nur auf den Fernverkehr ausgelegt und die
Stadt ist einer jener größeren Knotenpunkte, an denen eine dünne Ausfallstraße
im Gewirr der Hauptverkehrsachsen schnell untergeht. Andererseits ist es nicht
unbedingt ein Verlust, im Bereich der Innenstadt etwas irrend zu verweilen.
Wenn man von Norden her kommt, überquert man zunächst einen Fluß, den Tanaro
und fährt dann sofort auf eine unmittelbar um den Stadtkern gezogene Ringstraße.
Wie ich heute nach etwa einstündigem Suchen herausfinde, fährt man auf dieser
Ringstraße am besten nach rechts. Man bewegt sich dann eine kurze Zeit an
ausgedehnten Bahnanlagen entlang, die sich rechts des Weges befinden. Den
richtigen Ausgang, eine nach Südenwesten aus der Stadt führende Nebenstraße,
die alsbald in die S30 nach Acqui Terme einmündet, findet man, indem man auf
der Ringstraße der ersten Wegweisung nach rechts zum Industriegebiet folgt.
In dem sich anschließenden Vorort folge ich dann der Wegweisung nach Acqui
Terme. Dort wo ich nach etwa 10km auf die Staatstraße treffe, schlage ich
mich links in ein Maisfeld, das auf der anderen Seite durch ein Flüßchen,
die Bormida, begrenzt ist. In einem kleinen trockenen Waldstreifen daneben
schlage ich das Zelt auf. Es ist 20.00.
Heute gefahren: 289,28 km in 10:05
h Sattelzeit mit durchschnittlich 28,6 km/h über 1661 hm.
Mittwoch, 11.07.
Es war nicht ratsam, am Vortag
bis in den Abend hinein zu fahren. 10 Stunden Sattelzeit waren bei dem gefahrenen
Tempo der Belastung zuviel, als daß eine kurze Nacht zur Erholung genügt.
Zwei Stunden weniger und die Dinge wären heute gut. So wie es aber ist, lassen
sich die Pedalen nur kraftlos bewegen und jeder Versuch, eine Leistungssteigerung
aufzubauen, bricht beim geringsten Rhythmuswechsel, bei jeder noch so kleinen
Steigung und nach jedem Abbremsen sofort wieder zusammen. Bis Acqui Terme
sind es auf gerader Straße entlang der Bormida etwa 25 km. Die Landschaft
wird hügeliger und unmittelbar vor mir liegen die letzten Erhebungen der Alpen,
die zwischen Nizza und Genua an der ligurischen Küste entlang auslaufen und
per definitionem am 462m hohen Giovipaß bei Genua enden. Ab dort heißen
sie dann Appenien. Den letzten Alpenzug möchte ich ausgehend von Acqui Terme
auf einer kleinen Nebenstraße überqueren, die sich entlang des Erro auf den
516m hohen Colle del Giovo hinaufschlängelt und dann östlich von Savona, in
Albissola Marina auf das Mittelmeer trifft. Die Ankunft am Meer wird ein denkwürdiger
Moment. Sie markiert die Umsetzung des Traumes, mit eigener Kraft von Jena
zum Mittelmeer gefahren zu sein. Ich befinde mich also auf der Zielgeraden
und wegen meiner erheblich angefressenen Kräfte ohne Sorge. Etwa 45 km trennen
mich noch vom Meer. In Acqui Terme folge ich der Wegweisung Richtung Ovada,
die mich südlich aus der Stadt hinaus und dann über eine mit groben Steinen
gepflasterte Brücke führt, die den Fluß Bormida überquert. Nach der Brücke
halte ich mich rechts Richtung Sasello. Hier unten im Flußtal stehen die riesigen
Reste eines verfallenen römischen Aquädukts. Die dünne Straße steigt zunächst
über einige Kilometer in die östliche Flanke des Erro-Tals hinein an und fällt
dann zum Fluß hinunter wieder ab. Von hier schlängelt sie sich dann über etwa
15 km in sanfter Steigung am Wasser entlang in die Berge hinauf. Auf halbem
Weg hat es auf der rechten Seite eine Quelle, an der ich den Wasservorrat
auffülle. Der Ort Sasello thront mit seiner mächtigen Kirche hoch oben in
den Bergen. Es scheint hier eine ansehliche Altstadt zu geben. Die Straßenrestaurants
sind gut besucht. Nur noch wenige Kilometer trennen mich hier von der Paßhöhe.
Die Straße führt nun durch eine dicht bewaldete Gegend in gerader Linie weiter
den Berg hinauf. Oben ist eine kleine Ortschaft. Nach kurzem Verweilen gehe
ich in die steile, kurvenreiche Abfahrt. Albissola ist wie jeder andere Ort
entlang der Küstenstraße mit einer Blechlawine verstopft, an der ich ganz
nach italienischer Art, nämlich auf der linken Seite in der Straßenmitte vorbeifahre.
Das hier herrschende geschäftige, ja hektische Treiben berührt mich kaum.
Es ist Teil des Platzes, den ich nun endlich erreicht habe. Sonne und Meer
sind nun einschließlich aller damit verbundenen Umstände angesagt. Auf der
Küstenstraße halte ich mich rechts Richtung Savona. Von Savona, einst mächtige
Handelsstadt aber von den Genuesen seit dem Mittelalter klein gehalten, fallen
die gewaltigen Festungsmauern über der Altstadt und der mit riesigen Kreuzfahrtschiffen
gefüllte alte Hafen auf, um den sich die Straße herumwindet. Einige Kilometer
hinter der Stadt, noch hinter dem Fährhafen Vado Ligure, gibt es einen längeren
Abschnitt mit steinigen, relativ steil ins Wasser hinein abfallenden Stränden,
die nicht so stark dem allgemeinen Geschmack entsprechen, daß sie überfüllt
sind. Eher entsprechen die dort herrschenden etwas rauheren Bedingungen meinem
Geschmack. Strandbars gibt es hier auch. Nach kurzem Einkaufsstop lasse ich
mich dann irgendwo dort für einen langen Strandnachmittag nieder. Gegen 18.00
gehe ich dann auf die inzwischen nur noch schwach befahrene Piste weiter Richtung
Westen. Die ligurische Küste hat hier durchaus ihren Reiz. Die Straße hangelt
sich von Bucht zu Bucht, die durch hochaufragende, zum Teil felsige Landzungen
voneinander getrennt sind. In den Buchten fällt die Straße bis hinunter zur
Wasserlinie ab. Hier verläuft sie dann entlang von Stränden und Uferpromenaden
und vorbei an schmucken Städten, die zwar touristisch geprägt, aber nicht
überladen wirken. Am Ende einer jeden Bucht zieht sich dann die Straße im
langen Bogen empor zur Spitze der Landzunge. In luftiger Höhe folgt sie dann
der felsigen Küstenlinie und eröffnet atemberaubende Blicke auf das Meer,
bevor sie in die nächste Bucht hinabgleitet. Dieses Wechselspiel wird nur
hinter Finale Ligure durch einen einen ca 20 km langen flachen und brackig
wirkenden Küstenabschnitt unterbrochen. 10 km hinter Imperia schließe ich
dann die etwa 80 km lange Abendetappe in Lorenzo al Mare ab. Ich gehe hier
auf einen an ein Restaurant angegliederten kleinen Campingplatz im Berghang
über dem Industriehafen. Ich bin hier der einzige Gast. Es ist 21.00.
Heute gefahren: 168,13 km in 6:18
h Sattelzeit mit durchschnittlich 26,6 km/h über 1200 hm.
Donnerstag, 12.07.
Noch immer bin ich angefressen
von der Etappe vorgestern. Die gestrige Abendfahrt war unter physiologischen
Aspekten nicht optimal und so beginnt die Fahrt heute nicht anders als gestern.
Bis Nizza sind es noch etwa 80 km kein Beinbruch, für diesen Rest nicht
topfit zu sein. Die nun vor mir liegende Vormittagstour erfordert auch eher
Nerven denn Antriebsleistung. Der späte Start gegen 9.20 bringt mich in das
italienische Verkehrschaos hinein, das mich gestern Mittag noch ruhig gelassen
und das ich im weiteren durch die Verlegung der Küstentour in den Abend umgangen
habe. Im Grunde herrscht nun auf jedem Meter der Küstenstraße Stop and Go.
Hier reiht sich ein Badeort an den anderen. Zu dieser Zeit kleckern die Badegäste
in kleinen Gruppen zum Strand, wobei sie die Fußgängerwege benutzen, die im
Abstand von wenigen hundert Metern die Hauptstraße queren. Auf dieser schiebt
sich in beiden Richtungen eine endlose Blechlawine, die immer wieder ins Stocken
gerät, wenn irgendwo jemand einen Überweg betritt. Die italienischen Autofahrer
sind sehr rücksichtsvoll und geduldig. Nicht anders gestalten sich die Durchfahrten
durch die Innenstädte von San Remo, Bordighera und Ventimiglia, der letzten
Stadt vor der französischen Grenze. Ventimiglia wirkt irgendwie verwahrlost
aber vielleicht sind es ja die bis zu dieser Stunde geschluckten Abgase, die
mir den Blick für das Schöne und Korrekte nehmen. Ich kann eine aufkommende
Freude nicht unterdrücken, Italien in Kürze zu verlassen und pfeife schon
mal die Marseillaise.
Frankreich empfängt mich mit solider
Geruhsamkeit, deren Sinnbild ich kurz hinter dem Grenzübertritt in der Silhouette
von Menton erkenne. Die Altstadt liegt am Ende einer breiten Bucht, die dort
durch das weit ins Meer hineinreichende, hügelige und bewaldete Cap Martin
begrenzt ist. Sie thront auf dem sanft sich ins Meer hinabsenkenden Berghang
und wird im unteren Drittel von einer barocken Kirche dominiert. Von den sie
umgebenden Hotelbauten hebt sie sich kompakt ab. Durch ihre erdfarbenen Fassaden
strahlt sie mediterane Wärme und Gelassenheit aus. Jenseits des Cap Martin
schließt sich Roquebrune an. Der in die steile Bergflanke hineingebaute Ort
zieht sich über einige Kilometer an der Küste entlang und wird von einer hochoben
liegenden mittelalterlichen Festung beherrscht. Nahtlos schließt sich Monaco
an. Man hat hier die Kunst, eine Stadt mit Hochhäusern, Brücken und Plätzen,
Parkanlagen und Verkehrswegen in einen fast senkrecht sich aus dem Meer erhebenden
Fels hineinzubauen, mit Perfektion umgesetzt. Allein dies schon lohnt einen
Besuch, den ich dieser Stadt bereits vor Jahren erstattet habe. Noch immer
ortskundig, folge ich dem durch das über mehrere Ebenen laufende Straßenknäuel
hinunter zum Yachthafen. Die Suche nach dem richtigen Ausgang nach Nizza,
nämlich die Küstenstraße und nicht die Autobahn, gestaltet sich dann aber
schwierig und beschert mir einen unfreiwilligen aber vom Ergebnis lohnenden
Abstecher hinauf zur Fürstenresidenz.
Mein Ziel für heute heißt eigentlich
nicht Nice, sondern Eze, ein hoch über dem Meer in den Fels gebauter Ort.
Hier soll es den einzigen Campingplatz in der weiteren Umgebung geben. Daß
die Vorstellung, hier einen idyllischen Platz direkt am Mer zu finden, illusorisch
sei, weiß ich bereits seit Wochen. Die nächsten Tage, die ich hier verbringen
werde, werden also kein durch Müßiggang geprägter Badetourismus sein. Das
geplante Nichtstun wird sich anders gestalten, als vom Zelt direkt ins Wasser
zu springen. Kurz hinter Monaco stoße ich auf ein rechts den Berg hinauf,
nach Eze Village weisendes Schild.
Eze Village ist, wie ich im weiteren
Verlauf erfahre, eine auf einem Felsen 400m über dem Meer thronende mittelalterliche
Stadtanlage in dem extrem steilen Küstenabschnitt zwischen Niza und Monaco.
Verkehrstechnisch ist dieser Küstenabschnitt durch drei auf unterschiedlicher
Höhe parallel verlaufende Straßen erschlossen: Die Basse Corniche läuft weitgehend
an der Wasserlinie entlang. Auf halber Höhe, etwa 300 m hoch und unmittelbar
an Eze Village vorbei, führt die Moyenne Corniche und auf dem Kamm der die
Küste säumenden Bergkette verläuft die Haute Corniche, deren höchster Punkt
mit 507m der Col dŽEze, direkt oberhalb von Eze Village gelegen, ist. Mein
Campingplatz liegt an der Grand Corniche zwischen Nizza (Entfernung: etwa
10 km) und dem Col dŽEze (Entfernung: etwa 2 km) in etwa 500m Höhe direkt
im Berghang. Hier oben herrscht absolute Ruhe. Der Boden ist knochentrocken
und durch dürren Bewuchs bedeckt. Tief unten liegt das Meer, das hier eine
langgezogene Bucht bildet. Im Westen wird sie durch das weit hinausragende
St.-Jean-Cap-Ferrat, im Osten durch das wuchtige Cap-d`Ail begrenzt. In ihr
ankern unzählige winzige Yachten. Motorboote malen lautlos Stiche und Kringel
in die See. Die unfaßbare Größe dieses sich zum Meer hin öffnenden Raumes
läßt den Ort trotz der glühenden Mittagssonne angenehm kühl erscheinen, vielleicht
aber ist es auch der kaum spürbare Windhauch von der See. Dieser Ort, den
ich gegen 13.00 erreiche, übertrifft meine Erwartungen. Hier bleibe ich nun
eine knappe Woche.
Heute gefahren: 77,81 km in 3:32
h Sattelzeit mit durchschnittlich 21,9 km/h über 947 hm.
Freitag, 13.07.-Dienstag, 17.07.
Der Platz ist terassenförmig angelegt
und sehr gepflegt. Er gehört einem Ehepaar, das hier in der Abgeschiedenheit
auch eine Bar betreibt. Der nächstgelegene Ort ist in einer Entfernung von
etwa 4km Eze Village. Neben der auf den Fels gebauten Altstadt findet man
hier Supermarkt, Tabakladen, Bank und Restaurants. Nizza ist, der Grand Corniche
bergein nach Westen folgend, mit dem Rad in etwa 20 min. erreichbar, zurück
in 40min. Derselbe Zeiteinsatz ist für einen Schwimmausflug erforderlich.
Meine Tage beginnen gelassen.
Auf dem Dach der Welt sitzend und Buch oder Zeitung lesend vergehen die Vormittage.
Zeitung und Frühstück gibt es, je nach Laune, durch einen 40 minütigen Ausflug
unten in Eze Village zu erwerben. Einige Nachmittage verbringe ich in Nizza
aber ich werde mit der Stadt nicht so recht warm. Die Altstadt ist touristisch
überladen und reizt mich kaum. Mehrere Stunden verbringe ich mit der Betrachtung
endloser, mit schicken Jugendstilfassaden gesäumter Straßenzüge. Von anziehendem
Charme ist die Seepromenade. Gerne hätte ich hier mit den Franzosen am Samstag
den Nationaltag gefeiert aber ich komme an diesem Nachmittag des 14. Juli
zu spät. Die Tribünen werden bereits wieder abgebaut.
Einen Abend verbringe ich im exotischen
Garten, der sich auf der Felsspitze von Eze Village befindet. Einen stimmungsvolleren
Ort als diesen in der Abendsonne kann man sich nicht vorstellen. An anderen
Tagen gehe ich nachmittags schwimmen und probiere verschiedene Strände aus.
Ohne lange Weile vergeht die Zeit.
Schön ist es auch, abends mit
dem Fahrrad auf den Straßen hoch oben über dem Meer herumzukurven. Immer wieder
zweigen Stichstraßen ab, die auf kahle Bergkuppen hinaufführen. Von dort hat
man Rundumblick auch weit hinein ins Hinterland. Folgt man der Grand Corniche
weiter Richtung Osten, so gelangt man nach La Turbie, eine hoch im Berg über
dem Meer liegende Kleinstadt. Von dort führt eine kleine Departementstraße
durch knochentrockene Landschaft entlang der Flanke eines Höhenzuges Richtung
Peille ins Landesinnere. Ein anderer, zum Golfclub weisender Weg windet sich
die Bergflanke hinauf, an deren Fuß Monaco liegt. Hinter dem Golfplatz strebt
er einer bewaldeten Bergkuppe zu, auf deren Spitze sich eine riesige Radaranlage
befindet. Auf einem Parkplatz unterhalb des Golfplatzes steht ein klappriges
Wohnauto mit deutschem Kennzeichen. Die Insassen, ein Pärchen Mitte 30 haben
in Deutschland die Wohnung aufgegeben und wohnen nun hier. Der Blick aus etwa
700m Höhe hinunter zum Meer, auf Monaco und Cap dŽAil sowie die Stille lassen
die Wahl verständlich erscheinen. Die beiden leben von Straßenmusik, die sie
abends in Nizza darbieten. Wie ich hier für ein kurzes Verweilen anhalte,
laden sie mich zu einer Tasse Tee ein und wir quatschen, bis mich die einbrechende
Dunkelheit zum Abschied zwingt.
Am letzten Tag meines Aufenthaltes
treibt es mich dann bereits nach dem Aufstehen zu einer Tour durch das Hinterland.
Damit bereite ich innerlich den unvermeidlichen Abschied vor. Von La Turbie
folge ich heute der eben genannten Höhenstraße in das Hinterland bis Peille.
Dort beginnt sich dann die Straße hinunter ins Tal zu winden aber vorher gibt
es einen dünnen Abzweig nach rechts, der nach l`Escarène weist. Vom Untergrund
ist diese Straße für das Rennrad gerade noch brauchbar. Sie windet sich in
etwa 500m Höhe an einer bewaldeten Bergflanke entlang und senkt sich dann
nach einigen Kilometern in den Talgrund hinab, in dem ein kleines Flüßchen
fließt. Hier stehen mitten in der Landschaft einzelne Häuschen mit sehr naturnahen
Gärten. Ein Aussteiger könnte sich wohl keinen besseren Ort zum Verbleib vorstellen.
Auf der anderen Talseite steigt dann die Straße wieder entlang der Bergflanke
an, schwingt sich über den Höhenzug hinüber und fällt dann in zahlreichen
Serpentinen nach lŽEscarène hinein ab. Der Ort ist schön anzusehen, hat eine
recht dominante Kirche, einen Bouleplatz und eine über den Fluß führende steinerne
Brücke. Hier folge ich dem Wegweiser Richtung Col de Braus. Die Straße steigt
zunächst an der Flanke eines Flußtales mit mäßiger Neigung hinauf nach Touët-de-lŽEscarène,
einem ebenso schmucken wie verschlafenen Dörfchen. Von dort führt sie durch
einige Serpentinen aus dem sich verengenden Tal hinaus in ein Hochtal und
von dort über eine treppenförmig angelegte Serie mehrerer Serpentinen in die
nächste, zwergwüchsig bewaldete, steinige und in der Hitze flimmernde Bergflanke
hinein, an deren Kante sie sich dann zur 1002 m hoch gelegenen Paßhöhe hinaufzieht.
Hier oben steht inmitten von trockenem Nadelwald weinberankt die Ruine eines
einst mehrstöckigen, aus Natursteinen gemauerten Gasthauses. Auf halbem Weg
der kurvenreichen Abfahrt nach Sospel schlage ich mich dann rechts in eine
Nebenstraße, die weitgehend gerade durch einen Wald hinüber zum 706m hohen
Col de Castillon führt. Von dort rolle ich hinunter nach Menton, wo ich ein
Bad nehme und dann den bekannten Weg über das Cap Martin, durch Roquebrune
und Monaco hinauf zur Grand Corniche folge.
Den letzten Abend verbringe ich
im netten Plausch mit meinen polnischen Nachbarn bei zwei Flaschen Wein.
In diesen Tagen gefahren: 291
km über 5227 hm.
Mittwoch, 18.07.
Die gestrige Tour hat mich bereits
etwas angeknabbert, jedoch war es nicht die Kraft, sondern die Sitzfläche,
die gelitten hat. In der Hitze wird man dort schnell wund. Die Feuchtigkeit
verringert die Festigkeit der Haut aber für dieses Problem gibt es, wie die
Erfahrung der letzten Tage zeigt, eine einfache Lösung: Man fährt nicht mit
Rad- sondern mit Badehose. Es ist nämlich allein das Polster der Radhose,
das bei hohen Temperaturen die Feuchtigkeit hält. Ich starte in noch angenehmer
Kühle und in üblicher Bekleidung um 7.20 Uhr und nehme den bereits von gestern
bekannten Weg auf der Grande Corniche bis la Turbie und von dort die D53 nach
Peille. Weiter möchte ich wie gestern zunächst nach l`Escarène und von dort
den Fluß hinauf bis Lucéram. Dann zunächst auf Nebenstraßen über einen Höhenzug
hinüber ins Vesubietal und diesem bis hinauf zum Col St.-Martin (1500m) folgen.
Von dort könnte ich dann direkt hinunter ins Tal des Tinée abfahren, welches
dann über längere Zeit mein Begleiter bis hinauf auf den Col de la Bonette
(2802m) sein wird. Wenn alles gut läuft, sehe ich die Chance, heute noch bis
dorthin vorzustoßen.
Die Weichenstellung, die dies
verhindert erfolgt bereits sehr früh, nämlich am Ortsausgang von Peille. Ich
nehme hier nicht wie gestern die sich in weitem Bogen um das Tal herumwindende
Waldstraße, die ohnehin ein riesigenr Umweg wäre. Vielmehr fahre ich nun
direkt hinunter ins Tal des Peillon, um dann dem Fluß hinauf nach lŽEscarène
zu folgen. Die Flußstraße ist jedoch durch einen fest montierten Eisenzaun
gesperrt, der Grund dafür nicht ersichtlich. Ich kehre also um, fahre ein
ganzes Stück flußabwärts und stehe schließlich nach heute etwa 40 km kurz
vor Nizza und nur wenige Kilometer Luftlinie von meinem Ausgangspunkt entfernt.
Im Grunde besteht nun die Aufgabe darin, einen möglichst direkten Weg hinüber
in das nach Norden laufende Tal des Tinée zu finden, was einfacher klingt,
als es ist. Hier in Küstennähe laufen alle Flüsse von Nord nach Süd und in
entsprechender Ausrichtung liegen die Verkehrsachsen. Querverbindungen sind
nicht nur mit bissigem Auf und Ab, sondern auch mit erheblichen Umwegen verbunden.
Nach kurzem Durchatmen gehe ich also an, was nicht vermeidbar ist. Der Tag
wird Teil II der gestern begonnenen Besichtigungstour durch die Seealpen,
ein durchaus reizvolles Programm. Die Ausfallstraße aus Nizza, auf die ich
gestoßen bin, nehme ich zunächst ein kurzes Stück nach Norden und biege nach
etwa 3km links in ein Seitental, das mich in nordwestliche Richtung nach
Contes führt. Dort folge ich der Wegweisung nach Châteauneuf-Villevieille,
einem auf dem Bergkamm in knapp 700m Höhe gelegenen Festungsdorf, zu dem sich
die Straße in treppenförmig angelegten Serpentinen hinaufschlängelt. Bereits
hier wird die Temperatur brütend und ich wechsle in die Badehose. Das von
einer Mauer umgebene Dorf auf der Felsklippe wirkt einladend museal aber ich
fahre weiter. Der erste Bergkamm ist geschafft. Der Weg führt nun auf der
anderen Seite hinunter zur D19, die einem in nordwestliche Richtung weisenden
Hochtal folgt, das bei Levens abrupt in das 350m tiefer gelegene Vartal abstürzt.
10 km nördlich von Levens stößt das Tal der Tinée auf den Var. Dies ist das
Tal, dem ich im weiteren Verlauf nach Norden folgen muß. Der Weg dorthin scheint
also zum Greifen nahe. Unmittelbar nördlich von Levens hat sich aber auch
der Vésubie von Nordosten her kommend in einem engen Tal seinen Weg gebahnt
und trifft tief unten mit dem Var zusammen. Die von Levens in den Talgrund
führende Straße, die D19, läuft zunächst hochoben in der Flanke des Vésubietals
ca 15 km weit nach Nordosten. Bei St.-Jean la Rivière trifft sie auf die
im Talgrund laufende D2565, der man nun, in entgegengesetzter Richtung und
auf der anderen Flußseite folgen und so nach insgesamt 30 km das Vartal unterhalb
von Levens erreichen kann. 30 km für einen Steinwurf- das ist der Tribut der
Schroffheit der Seealpen. Mein Weg folgt nun zunächst der D19, also der nach
Nordosten führenden Straße in der Flanke des Vesubietals. Sie ist sehr spektakulär
in den Steilhang hineingemeiselt, folgt seinen Konturen in teils engen Kurven
und durchbricht sie teils in ebenso engen, naturbelassenen Tunnels. Die Strecke
ist unbedingt empfehlenswert. In dem knapp 300m hoch gelegenen St.-Jean la
Rivière beginnt nach Überquerung des Vesubie mein zweiter Steilanstieg für
heute, diesmal in glühender Mittagshitze. Die Straße führt von hier über zahlreiche
Serpentinen in das knapp 800m auf dem Bergrücken gelegene Utelle, ebenso ein
Festungsdorf. Auf der anderen Seite des Rückens folgt eine dürre Departemetstraße
zunächst auf halber Höhe einem sich nach Westen hin absenkenden Tal, schwingt
sich dann hinauf auf den Grad und führt auf der Rückseite in schwungvollen
Serpentinen zum Grund eines parallelen, ebenso nach Westen hin abfallenden
Tals. Dort beginnt dann nach Überquerung eines Flüßchens der Anstieg hinauf
zum dritten und letzten Festungsdorf für heute, dem 600m hoch über einem Seitental
des Tinée gelegenen La Tour. Danach folgt die Straße in luftiger Höhe dem
zum Tinée hin weisenden Berggrat und stürzt sich schließlich in das 350m tiefer
gelegene Tal. Nun bin ich endlich dort, wo ich hinwollte. Bis Isola, wo ich
plane zu übernachten, sind es noch etwa 40 km talauf. Es ist früher Nachmittag.
In meine Richtung steht ein strammer Wind. Ich genieße den Ausklang der Etappe
und lasse mich entspannt durch das enge, reizvolle Tal mit seinem reißenden
Fluß dem Ziel entgegentreiben, das ich gegen 15.00 erreiche.
Isola, 900m hoch gelegen, ist
ebenso wie das 15 km talab liegende St.-Sauveur sur Tinée durch seinen museal,
keineswegs aber touristisch geprägten Charme sehenswert. So fällt es nicht
schwer, hier zu bleiben.
Heute gefahren: 142,63 km in 6:18
h Sattelzeit mit durchschnittlich 22,5 km/h über 2638 hm.
Donnerstag, 19.07.
Der Morgen ist angenehm frisch.
Der nächtliche Fallwind hat sich noch nicht gelegt und schiebt sich in einem
leichten Hauch das Flußtal hinab. Heute fahre ich bereits mit Badehose los.
Es ist 7.20 Uhr. Die Sonne hat noch nicht bis hinunter ins Tal gefunden. Weiter
geht es im sanften Anstieg den Fluß hinauf bis zum 15 km entfernten St.-Etienne-de
Tinée. 1200m hoch gelegen beginnt hier die Anfahrt zum Col de la Bonette.
Wie ich den Ort durchfahre, macht sich am Straßenrand gerade eine größere
Gruppe Radfahrer bereit für den Paß aber noch sind sie am Auspacken. Am Ortsende
führt die Straße hinüber zum rechten Flußufer und geht dann sofort in eine
ca 5%ige Steigung. Dabei folgt sie zunächst einige Kilometer dem Tal eines
Gebirgsbaches bis auf etwa 1800m Höhe, um sich dann in einigen Serpentinen
auf den rechten Talrand hinauf zu schwingen. Inzwischen ist es recht warm
geworden. Die Bergwiesen stehen in voller Blüte. Über dem kniehohen Gras tummeln
sich tausende Insekten. Bald bin ich von einem Schwarm umgeben. Ich versuche,
ihn loszuwerden. Bei 20 km/h kommen sie nicht mehr mit, nur ist dieses Tempo
in der Steigung nicht lange zu halten. Wenn ich runtergehe, sind sie sofort
wieder da. Ich werde wohl eine Zeit mit den Biestern leben müssen. Dabei fällt
mir ein, daß es heute zum ersten mal dieses Problem gibt. Die Insekten leben
hier, weil es blühende Bergwiesen gibt und nicht wie gestern nur kargen, trockenen
Stein. Auf 2000m Höhe gibt es eine Herberge mit einer Wasserstelle. Hier fülle
ich den Vorrat nach, denn weiter oben wird es kein Wasser mehr geben. Im weiteren
Verlauf führt dann die Straße in einer Reihe von Serpentinen einen grasbewachsenen
Abhang hinauf, an dessen Ende eine gespenstisch verlassene Ansammlung von
Häusern, wahrscheinlich eine ehemalige Militärunterkunft, steht. Dann geht
es weiter in eine Bergflanke aus Geröll hinein, der die Straße dann in weitem
Bogen mit mit etwa 7% Steigung folgt. Am Ende dieser gekrümmten Flanke befindet
sich, bereits jetzt sichtbar, ein erdfarbener Kegel, der Col de la Bonette.
An seinem Abhang führt die Straße, bereits jetzt als dünner Strich erkennbar,
schräg hinauf und dann unterhalb der Spitze um ihn herum.
Der Weg dorthin führt durch karge
Fels- und Geröllandschaft. Er ist mühsam.
Der letzte Anstieg zum Kegel hinauf
fordert dann nochmals alle Kraft. Er ist extrem steil. Von der Paßhöhe aus
läßt sich ausschließlich karge, vegetationslose Schutt- und Geröllandschaft
überblicken. Die umliegenden Berge sind kaum höher als der Kegel selbst. Schneefelder
sieht man nicht. Die Luft ist heute klar und warm, der Himmel mit einigen
Schönwetterwolken bedeckt. Hier oben tummeln sich ausschließlich Rad- und
Motorradfahrer. Einen Platz zum Verweilen gibt es kaum. Auf der Stufe des
die Paßhöhe markierenden Steins am Straßenrand kaue ich mein zweites Frühstück
und gehe nach einer halbstündigen Pause in die Abfahrt. Diese beginnt mit
einem langen Bogen auf der anderen Seite des Kamms, den man am Bonette-Kegel
umrundet hat, stürzt sich dann in ein Gewirr von Serpentinen und folgt schließlich
einem flachen Tal hinunter nach Jausiers, das etwa 1200m hoch liegt. Hier
stößt die Straße auf die D900, die der Ubaye hinunter Richtung Gap folgt.
Ich aber halte mich rechts, fahre die Ubaye hinauf. Sie ist ein unbändiges
Gebirgsflüßchen mit kristallklarem Wasser, in dessen kühler Reinheit sich
der sonnendurchflutete Himmel tausendfach spiegelt. Auf der Straße ist es
demgegenüber brechend heiß. So zwingend es erscheint, diesen Kontrast zum
Ausgleich zu bringen: ich finde keine Stelle, um ins Wasser zu springen und
ebenso unbändig, wie die Ubaye das Tal hinabtost, so zieht es mich nach der
rasanten Abfahrt vom Col de la Bonette der nächsten Paßauffahrt zu, dem Col
de Vars. Dessen Anstieg beginnt nach etwas mehr als 10km bei St.-Paul, einem
gemütlichen Gebirgsdorf, wo die Straße das Flußtal nach Nordwesten zu verläßt
und sich in einem steilen Seitental mit kurzatmigen Serpentinen zur 2108m
hochgelegenen Paßhöhe hinaufhechelt. Diese ist sehr geräumig. Flankiert wird
sie von zwei knapp 2800m hohen Gipfeln, deren Abhänge gehörigen Abstand zueinander
halten. Ohne Pause gehe ich sofort in die Abfahrt, die einem zunächst flachen
und sich nach unten hin immer tiefer in den Berg schneidenden Tal folgt. Hinter
Vars, einem Wintersportort geht die Straße kurz unter neuerlichem Anstieg
in die rechte Talflanke hinein und folgt dieser unter wiederholtem Auf und
Ab bis hinunter nach Guillestre, einer durchaus sehenswerten Kleinstadt mit
gut erhaltener historischer Bausubstanz. Der Ort liegt auf 1000m Höhe auf
einem Talplateau, das im Norden durch das tief eingeschnittene Bett des Guil
von der angrenzenden Bergflanke abgetrennt ist. Der Guil, ein Flüßchen mit
sehr starkem Gefälle tritt hier im Nordosten aus einem tief in den Berg geschnittenen
Tal hinaus. Diesem folgt die D902, auf die ich nun einbiege. Die Straße ist
eng an den steilen Abhang über dem reißenden und an einigen Stellen in Becken
aufgestauten Guil gebaut und senkt sich nach einigen Kilometern hinab zum
Talgrund. Von hinten weht ein heißer Wind. Die Straße wird dem Guil nun etwa
10km folgen und sich dann am Château Queyras links hinauf in ein Seitental
schlagen, in dem die Anfahrt zum Col d`Izoard (2380m) beginnt. Es ist früher
Nachmittag und ich bin unschlüssig, wie weit ich heute noch fahren sollte.
Die einfachste Variante wäre, am Château Quyeras zu bleiben, wo es unten am
Fluß einen Campingplatz gibt. Aber auch der Izoard lockt als krönender Tagesabschluß.
Zeit dafür und die Weiterfahrt hinunter nach Briancon hätte ich allemal, nur
riskiere ich einen Verschleiß meiner Kräfte und einen Leistungseinbruch in
den Folgetagen, wenn ich heute überreiße. Jetzt, wo meine Alpendurchquerung
erst am Anfang steht, kann ich mir dies am wenigsten leisten. Die absolute
Grenze einer Tagesbelastung hatte ich mir bereits vor längerer Zeit bei 8
Stunden Sattelzeit definiert. Sechseinhalb Stunden waren heute bereits gefahren.
Der Izoard würde eine randgenähte Sache werden.
Die Entscheidung fällt bei einem
kühlen Bad im Fluß. Was lag näher als das, die Badehose trage ich ja bereits
seit dem frühen Morgen. Ich setze mich mitten in die kalte, erfrischende Strömung
und wasche mich von den Bedenken rein. Neue Kräfte erwachen. Dazu esse ich
eine Kleinigkeit, atme durch und gehe in die letzte Runde. In Sichtweite vor
dem Château Queyras biege ich also nach links ab, wo die Straße in kurzem
Zick-Zack den Eingang zu dem Seitental erklimmt. In dem sich alsbald weitenden
Talboden folgt dann über eine kurvenlose, mäßig steigende Strecke von 10 km
eine Serie größerer Dörfer, deren letztes, Brunissard, bereits auf einer Höhe
von 1800m liegt. Hier beginnt sich die Straße in schwungvollen Serpentinen
rechts aus dem Tal hinauszuwinden und erreicht in 2200m Höhe einen Bergsattel,
der in ein weites, mit Geröllschutt gefülltes Tal hineinmündet. Dieses Tal
zieht sich bis hinauf zur Paßhöhe in 2380m und bleibt wegen seiner bizarren
meterhohen Felsfiguren in Erinnerung. Diese hat der seit Jahrtausenden über
den Paß fegende Wind in das rötlich-gelbe Gestein geschliffen. Von dem Sattel
fällt die Straße zunächst ein Stück in das Gerölltal hinein ab und erklimmt
dann an dessen Ende in einer Handvoll Serpentinen den Grad. Der heute in nördliche
Richtung über den Kamm pfeifende trocken-heiße Wind übertrifft den das Tal
hinaufziehenden thermischen Luftstrom, der mich bis hierher begleitet hat,
um ein Vielfaches. Er gibt der Luft eine unnatürliche Klarheit. Die den Paßübergang
zu beiden Seiten säumenden Bergflanken mit ihren in der Nachmittagssonne rötlichgelb
schimmernden Schutthalden wirken surreal. Die klare Luft läßt auch auf die
große Entfernung jeden kleinsten Schatten an den Abhängen erkennen, was zu
einer ungewohnt überhöhten Wahrnehmung ihrer Räumlichkeit und dem Anschein
führt, als könne man sie mit ausgestrecktem Arm greifen. Ich verweile eine
Zeitlang bei der Betrachtung dieses Sinnesschauspiels. Obwohl ich bereits
zum vierten Mal hier bin, habe ich es noch nicht in dieser Intensität erlebt.
Die Abfahrt nach Briancon dauert
etwa 40 min. Die Straße folgt hier einem nach Norden laufenden Tal, in das
sie zunächst über einige Serpentinen hinabsteigt, dann aber über lange Passagen
kurvenlos verläuft. Der Untergrund ist sehr gut und erlaubt rasante Geschwindigkeit.
In Cervièrs, einem größeren Ort auf 1600m Höhe mit einer dominanten, aus Felssteinen
gemauerten Kirche, beschreibt das Tal einen scharfen Knick nach Westen. Briancon,
mein heutiges Etappenziel, liegt auf 1200m Höhe an einer Stelle, wo sich drei,
jeweils von einem Paßübergang hinabführende Täler zu einem Haupttal vereinigen,
das in südwestliche Richtung aus den Alpen hinausläuft. Die drei Pässe sind
der Col d`Izoard im Südosten, der Col de Montgenévre (1850) im Nordosten
und der Col du Lautaret (2057m) im Nordwesten. Letzterer wird mit dem sich
an seiner Nordflanke unmittelbar anschließenden Col du Galibier (2642m) meine
Aufgabe für morgen Vormittag. 3 km außerhalb der Stadt befindet sich in einem
Berghang in sehr idyllischer Lage ein Campingplatz, den ich nach vorangegangenem
Einkauf gegen 18.00 erreiche.
Heute gefahren: 162,38 km in 8:50
h Sattelzeit mit durchschnittlich 18,3 km/h über 4330 hm.
Freitag, 20.07.
Zwei Tage zuvor ist hier die Tour
de France durchgekommen. Briancon war Etappenziel. Start war in Val dŽIsere,
mein heutiges Ziel. Ich fahre heute Tour de France rückwärts. Ich starte um
8.15 und beginne den Anstieg in das langgezogene Tal hinauf zum Col du Lautaret.
Es ist bereits jetzt recht mild. Die Sonne erreicht recht schnell den Grund
des sehr weiten, sich über etwa 25 km zum Col du Lautaret auf 2038m hinaufziehenden,
von Südost nach Nordwest verlaufenden Tals. Die Thermik kommt nur langsam
in Bewegung aber die Steigung ist mit kaum mehr als 5% auch ohne Rückenwind
bequem zu fahren. Vor mir, am Talende liegt die sonnenbeschienene, aus Felsklippen
und Schutthalden bestehende Erhebung, in der sich irgendwo der Col du Galibier
befinden muß. An ihrem Fuß macht die Straße einen langgezogenen Bogen nach
Westen, wo sie nach der Paßhöhe des Lautaret in sanftem Gefälle Richtung Grenoble
hinabführt. Genau auf dem Lautaret beginnt die Rampe hinauf zum Galibier,
eine schmalere Straße, die zunächst gerade an die Stirnseite eines kurzen
Bergsattels hinanführt und sich dann in zwei schwungvollen Serpentinen auf
diesen hinaufschwingt. An seiner Ostflanke führt sie dann weiter in den Berg
hinein, dessen steile, durchfurchte Hänge hier noch mit Gras bewachsen sind.
Weiter unten im Hang kann man als kleine Punkte weidende Schafe oder Kühe
erkennen, die am Berg zu kleben scheinen. Nach einer haarnadelförmigen Kurve
geht es, immer bei ca 7% Steigung, am nächsten Sattel entlang wieder aus dem
Berg hinaus und nach dessen Umrundung wieder in ihn hinein. Am Ende des Taleinschnitts
schwingt sich dann die Straße in einer langgezogenen Rechtskurve in die Paßflanke
hinein, die sie dann in zwei langen filigranen Bögen erklimmt. Auf etwa halber
Höhe dieses letzten Abschnitts, auf etwa 2500m, befindet sich die Tunneleinfahrt
mittels derer sich Autofahrer den letzten Rest des Anstiegs auf 2660m sparen
können. Hier verschärft sich dann die Steigung noch einmal.
Seit etwa der halben Strecke vom
Lautaret sehe ich, wie sich immer etwa eine Kurve hinter mir jemand müht,
an mich heranzukommen. Ich kenne das, weil ich es auch selbst immer dann tue,
wenn ich vor mir jemanden fahren sehe, von dem ich glaube, daß ich mich mit
ihm anlegen kann. Diese Herausforderung habe ich nun als Verfolgter angenommen
bin daher schon seit einiger Zeit mit recht scharfem Tempo dabei. Der Abstand
scheint bei einigen hundert Metern zu halten.
Der Galibier zeigt sich heute
von seiner besten Seite. Oft genug erlebt man ihn kalt und wolkenverhangen.
Zum vierten mal bin ich heute hier. Gegenüber der Bergflanke, die zum Galibier
hinaufführt, erhebt sich mächtig das knapp 4000m hohe, gletscherbeckte Massif
des Écrins, eine Augenweide, bei der man an einem Tag wie heute stundenlang
verharren könnte. Zum Glück steht hier bei gutem Wetter an einer der Serpentinen
immer ein Fotograf, der die vorbeikeuchenden Radfahrer vor dieser grandiosen
Kulisse ablichtet und ihnen dann eine Visitenkarte in die Hand drückt. Man
kann sich dann, wieder zu Hause, die Fotos im Kleinformat im Internet anschauen
und ggf. kaufen. Mit dieser Aussicht im Hinterkopf kann man es sich dann auch
erlauben, diesen König der Tour de France - Pässe in der ihm angemessenen
Würde, nämlich ohne jede Sentimentalität für landschaftliche Reize, nämlich
im Wettkampf mit anderen zu erklimmen, so wie ich es gerade tue. Meine Aufmerksamkeit
gilt also den hinter mir liegenden ca 200 m Straße. Wenn der Verfolger angreift,
wird das Tempo verschärft. Dafür habe ich heute trotz des bereits hohen Tempos
Reserven. Auf dem letzten Stück des Anstiegs wird es jedoch schwierig. Es
ist extrem steil und nicht in jedem Moment geht der Blick nach hinten. So
passiert es dann, daß der Verfolger kurz vor dem Paßschild so überraschend
an mir vorbeizieht, daß eine Reaktion nicht mehr möglich ist. Er muß auf den
letzten halben Kilometer extrem in die Pedalen gegangen sein. Schilder sind
für Radfahrer immer ungeschrieben Signalpunkte- im Flachland Ortsschilder,
in den Bergen Paßschilder, an denen man sich mit anderen im Sprint mißt. Wer
es im Duell mit einem anderen zuerst passiert, darf sich eine Kerbe in den
Rahmen schnitzen. Diese geht an den namenlosen langhaarigen Verfolger.
Oben habe ich dann Zeit für die
Landschaft. Auf der anderen Seite des Passes schlängelt sich die Straße in
einigen weitausholenden Serpentinen in ein verlockend weites grünes, gewundenes
Tal hinunter. Auf der Paßhöhe gibt es nur einen kleinen staubigen Parkplatz,
auf dem sich Hinz und Kunz tummeln, aber einen längeren Augenblick des Verweilens
ist der Ort allemal wert.
Nach etwa einer Viertelstunde,
so gegen 11.00 gehe ich in die Abfahrt. Die Straße ist hier unübersehbar durch
die Tour de France gezeichnet. Das Publikum hat im Laufe der Jahre soviele
Sprüche auf den Untergrund gemalt, daß dieser kaum noch sichtbar ist. Nach
den Serpentinen wird die Abfahrt entlang des Talgrunds rasant schnell, gelegentlich
nur gebremst von engeren Kurven, mittels derer die steileren Abschnitte des
sich mal sanft, mal rasant nach Valloire auf 1400m hinab senkenden Tals überwunden
werden. Immer wieder rumpeln Wohnmobile vor mir her, die sich nur mit gegenwärtiger
Gefahr für Leib und Leben überholen lassen und in den Kurven stets die gesamte
Straßenbreite beanspruchen. Ich beschimpfe sie aber die greisen Lenker lassen
sich davon nicht beeindrucken. Valloire ist ein recht schicker Ferienort,
der positiv deshalb auffällt, weil er nicht wie andere Ferienorte in den Bergen
durch häßliche Massenunterkünfte und Skiliftanlagen geprägt ist. Heute halte
ich hier nur kurz, um Wasser nachzufüllen und nehme dann im übrigen den Schwung
aus der Abfahrt gleich mit hinein in den kurzen Anstrieg auf den 1566m hohen
Col du Télégraphe. Die Straße führt hier an der Ostflanke des steil ins Arctal
hinunterführenden Tals bis auf den Bergsattel hinauf und windet sich dann
auf der gegenüberliegenden Seite über unzählige Serpentinen am waldbewachsenen
Berghang tief hinab nach St.-Michel-de Maurienne auf etwa 700m. Nach dem hochalpinen
Erlebnis der letzten Tage ist man hier wieder in der zivilisierten Welt. Das
tief eingeschnittene, hier von Ost nach West laufende Tal der Arc führt neben
dem Fluß noch eine Nationalstraße, eine Bahnlinie und eine Autobahn. Folgt
man ihm etwa 50 km nach Ost, später Nordost, so erobert man Schritt für Schritt
die hochalpine Welt zurück, die dann am 2770 m hohen Col de l`Iseran, dem
zweithöchsten Alpenpaß, einen weiteren Höhepunkt bietet. Dieser ist für heute
mein zweites Ziel. Ich biege also nach rechts ab und lasse mich durch einen
leichten Talwind entlang der Autobahn bei kaum spürbarer Steigung in das ca
20 km talaufwärts gelegene Modane treiben. Autobahn und Bahn knicken hier
durch Tunnels nach Süden Richtung Turin ab. Nun ist es nur noch die N6, die
sich durch das zusehends steiler werdende Tal in die Berge hineinarbeitet
und immer wieder an engen Stellen den Talgrund verlassen muß. Einige Kilometer
hinter Modane baut sich ein immer stärker werdender Gegenwind auf. Ist dies
bereits Anzeichen für den bevorstehenden Wetterumschwung im Nordteil der französischen
Alpen, von dem ich gestern gelesen habe? Diese Befürchtung bereitet mir beinahe
größere Sorge als die Aussicht, nun stundenlang gegen den Wind dieses Tal
hinaufahren zu müssen. Ich habe zuwenig Erfahrung, als daß ich aus dem Anblick
des Himmels auf den Wetterverlauf der nächsten Stunden schließen könnte. Nichts
Bedrohliches kann ich erkennen: Sonne und Wolken. Ich bin vorgewarnt. Den
Paß muß ich heute noch überqueren und drücke daher aufs Tempo, obwohl es erst
früher Nachmittag ist. Ich baue meine Hoffnung auch darauf, daß der talabwärts
laufende Wind etwas mit dem Col du Mont Cenis zu tun hat und nichts mit einem
Wetterumschwung: Etwa 20 km talaufwärts von Modane mündet in das hier nach
Nordost laufende Tal der von Südwest aus dem Piermont hinüberführende Mont-Cenis-Paß
ein. Wenn an diesem Paß mit seiner steil nach Süden hin abfallenden Flanke
ein starker thermischer Wind steht, dann könnte dieser sich über die Paßhöhe
hinüber bis in das Arctal hinein, und zwar talabwärts fortsetzen. Das wäre
ein ähnlicher Effekt, wie er im Engadin durch den steil nach Süden hin abfallenden
Malojapaß bis hinunter in das 50 km entfernte Zernez spürbar ist. Wenn die
Theorie stimmt, wäre das nicht nur Entwarnung was das schlechte Wetter angeht,
sondern bedeutete zugleich die Aussicht, ab Lanslebourg, der Talstation
des Mont-Cenis, wieder mit Rückenwind zu fahren. Der Gegenwind wird immer
stärker, die Theorie schmilzt mit jedem Meter immer mehr dahin. Hoffnung
stirbt zuletzt. Auch in Lanslebourg weht der Wind von vorn. Er schert sich
um keine Theorie. Weiter kämpfe ich gegen ihn an. Plötzlich, den Ortskern
habe ich bereits hinter mir gelassen, hört der Wind auf. Kurz darauf steht
er in meinem Rücken. Es gibt Dinge, die glaubt man erst, wenn man sie erlebt
hat. Nach Lanslebourg, inzwischen sind bereits wieder 1400m Höhe erreicht,
führt die Straße leicht aus dem Tal hinaus und fällt dann zum nächsten Ort
hin, nach Lanslevillard, wieder ab. Die Talorte hier sind sehr schön. Sie
zeugen von solider, steingewordener Geschichte. In den Ortskernen stehen wuchtige,
aus Steinplatten gemauerte Kirchen mit eckigen Türmen. Der Mont Cenis ist
ein sehr alter Alpenübergang, das Tal, in dem ich mich gerade bewege, eine
über Jahrhunderte gewachsene Verkehrsachse. Heinrich IV soll auf seinem Weg
nach Canossa den Mont Cenis überquert haben. Wo immer Canossa liegt und wo
immer der König hergekommen sein soll, beim Anblick der Gegend hier scheint
das plausibel. Nach Lanslevillard geht die Straße in mehreren geschwungenen
Serpentinen an der nördlichen Flanke aus dem Tal hinaus und rollt dann, weiter
stromaufwärts führend, sanft wieder in das Tal hinab. Der Talgrund wird hier
breiter, nahezu eben und verfällt in eine gleichmäßige Steigung. Nach etwa
5 km passiert man Bessans, ein schmuckes Taldorf mit natursteinbedeckten Häusern.
Seine Durchfahrt liegt am Weg, wenn man die Straße hier nach links verläßt
und nach dem Ort wieder auf sie stößt. Nach weiteren ca. 7 km durch das bereits
nur noch mit magerem Graß und Büschen bewachsene Flußtal erreicht man das
1800m hoch gelegene Bonneval sur Arc, die Talstation des Col de l`Iseran.
Am Ortsende macht die Straße eine Spitzkehre nach links. Genau in der Kurve
ist eine Quelle, die ich auch heute zum Auffüllen der Trinkflaschen und einer
kurzen Pause benutze. Dann geht es in zwei langgezogenen ca 7 %igen Serpentinen
die nördliche, steil ansteigende Talflanke hinauf bevor man dann, gut 200
m über dem Ort, in ein Seitental einbiegt, das von einem klaren, reißenden
Gebirgsbach durchzogen wird. Die Natur hier oben wirkt sehr frisch. Ein intensives
Grün der Wiesen steht im lebendigen Kontrast zu den strahlendweißen Schaumkronen
des zu Tal tosenden Wassers. Nach ca. einem Kilometer überquert die Staße
den Bach und windet sich dann in drei langgezogenen Serpentinen den anfangs
grasbewachsenen, nach oben zu immer gerölliger werdenden Berghang hinauf auf
ca. 2500m. In der Steilwand verläuft sie dann ein ganzes Stück, teils durch
kurze Tunnels mit geringer Steigung weiter, bevor sie nach rechts in ein weites
alpines Hochtal einbiegt. An dessen Ende, nach etwa einem km, macht sie eine
Spitzkehre und läuft hinauf zum 2762 m hohen Paßübergang, den ich um 16.30
Uhr erreiche. Dieser ist weiträumig. Die ihn unmittelbar säumenden Erhebungen
sind kaum höher als der Paß selbst. Es weht ein starker aber milder Wind.
Die Luft ist klar. Die umliegenden schneebedeckten Gebirgsketten scheinen
zum Greifen nah. Dicke Wolken türmen sich hoch oben am Himmel aber noch hat
die Sonne das Sagen. Ihr Licht ist silbrig gedimmt und wirft schemenhafte
Schatten. Auch diese Szenerie wirkt surreal nur kommt heute noch ein Hauch
des Bedrohlichen hinzu. Es sind die mächtigen Wolken, die sich noch nicht
bis auf die Berggipfel hinabgesenkt haben aber den sich nahenden Wetterumschwung
ankündigen. Zu längerem Verweilen habe ich daher auch nicht die Ruhe, obwohl
mich von meinem heutigen Etappenziel, dem 1800m hoch gelegenen Wintersportort
Val dŽIsère, nur noch 17 km Paßabfahrt und damit nicht mehr als 30 min trennen.
Die Straße führt zunächst in einem sanft nach Nordost hin abfallenden Taleinschnitt
hinab auf den oberen Rand des schroff abfallenden Isère-Tals, an dessen Südhang
sie sich dann hinabarbeitet. Einen kurzen Moment verweile ich beim Blick auf
die tief unten liegende Stadt, die ich nach rasanter Abfahrt gegen 17.10 erreiche.
Unansehliche Bettenburgen prägen das Stadtbild, jedoch ist bei aller Schnelligkeit
der Abfahrt das alte Val dŽIsère, ein schmuckes Bergdorf nicht zu übersehen,
an dem man etwa 2 km vor dem neuen Val d`Isère vorbeirauscht.
Der Campingplatz am Ortseingang
wirkt recht sympatisch: überschaubar und gepflegt. Der Himmel zieht sich jetzt
immer weiter zu. Auch hier unten weht starker Wind. Das erste Mal benutze
ich heute die Abspannleinen für das Zelt, weil es nach einem Unwetter aussieht.
Wenig später kann ich dann sehen, wie einzelne Schauerzellen durch das Tal
gejagt werden aber es ist ein Schauspiel, bei dem ich Zuschauer bleibe. Der
Wind rüttelt am Zelt aber für diese Nacht bleibt es trocken.
Heute gefahren: 162,5 km in 7:57
h Sattelzeit mit durchschnittlich 20,4 km/h über 3672 hm.
Samstag, 21.07.
Nebel liegt im Tal. In der Nacht
hat es stark abgekühlt und das erste Mal seit Wochen packe ich morgends wieder
ein nasses Zelt ein. Um 7.35 Uhr fahre ich los. Es beginnt mit einer Abfahrt
tiefer in das Tal der Isère hinab, dessen Verlauf die Staße in der rechten
Flanke folgt. Nach einigen Kilometern kommt auf der linken Seite ein Stausee,
nach dessen Damm es rasant weiter taleinwärts geht. Insgesamt 25 km und die
1000m-Grenze ist nach unten durchbrochen. Hier führt eine Nebenstraße rechts
hinauf Richtung La Rosière. Es ist eine Abkürzung in den Anstieg zum Col du
Petit St-Bernard, der eigentlich weiter unten, in Seez, beginnt. Kurz vor
La Rosière mündet meine Abkürzung wieder auf die Hauptstraße von Seez, die
N90. Vorher jedoch windet sie sich mit mäßiger Steigung durch Wälder und Dörfer
wieder hinauf auf 1600m. Die N90, ist dann sehr bequem zu fahren. Zahllose
Serpentinen sorgen für Abwechslung und angenehme 5% Steigung. Der Nebel will
sich nicht so recht lichten aber immer öfter bricht die Sonne hindurch. Hinter
La Rosière biegt die Straße rechts in das zur Paßhöhe hinaufsteigende Seitental
ein, das sich, anfangs noch schroff in den Berg geschnitten, nach oben zu
weitet und durch das gleichmäßig intensive Grün seiner Wiesen auffällt. Die
Sonne schafft nun endgültig den Durchbruch, jedoch bleibt die Luft diesig
und kühl. Die Paßhöhe erreiche ich um 9.50 und habe wenig Muße für eine Pause.
Irgendwie schmeckt mir nicht, daß hier schon wieder Italien anfängt. Hier
oben kommt zunächst ein ewig langgezogenes Stück, bevor sich die Straße in
einer Serie einzelner Serpentinenhaufen in ein nach Nordost laufendes Tal
hinabsenkt. Schicke Orte säumen den Weg bis hinunter in das nur noch 1000m
hoch gelegene Pré-St-Didier, wo ich rechts auf die Hauptstraße nach Aosta
abbiege. Noch 30 km sind es bis dort, auf denen die Strecke gleichmäßig weitere
400m abfällt. Es ist ein insgesamt wenig reizvolles, jedoch recht schnell
zu bewältigendes Stück. Der Gegenwind ist kaum spürbar. Die Temperatur hat
inzwischen deutlich zugelegt. Mit scharfem Tempo erreiche ich gegen 11.30
Aosta, eine schicke, historische Stadt, die ich aber heute zügig passiere.
Der Große St-Bernard ist noch zu überqueren und das Wetter setzt mich unter
Zeitdruck. Noch sieht es stabil aus, aber in den nächsten zweieinhalb Stunden,
die ich für die Paßauffahrt benötigen werde, kann sich viel ändern. In Aosta
finde ich mich schon gut zurecht. Am Eingang zur Altstadt befindet sich ein
Brunnen, wo ich Wasser tanke. Im unteren Bereich des Großen St.-Bernard sind
die Wasserstellen, wie ich weiß, dünn gesät, der kleine Abstecher also kein
Verlust.
Die Auffahrt beginnt auf 600m
und führt zunächst die wenig reizvolle, breit ausgebaute Transitstraße Richtung
Schweiz entlang, auf der man bis auf 1500m hinaufsteigt. Hier unten ist es
zunächst noch heiß. Der Vorteil der Transitstraße ist ihre gleichmäßige, mit
5% angenehme Steigung, bei der man gut auf Autopilot schalten kann. Der Verkehr
hält sich heut in Grenzen und so verläuft dieser Streckenabschnitt recht entspannt.
Schnell lasse ich das Umland von Aosta hinter mir und Schritt für Schritt
kommt die Bergwelt zurück. Die Straße führt in der westlichen Flanke eines
Tals hinauf in die Berge, wobei sie stets den Talgrund weit unter sich läßt.
Gelegentlich klettert sie in kleinen Serpentinenkombinationen weiter am Talhang
hinauf, um sich dann in flacheren Abschnitten wieder dem Talgrund zu nähern.
Zahlreiche recht touristisch aber keineswegs unangenehm wirkende Bergdörfer
liegen am Weg. Auf ca. 1300m, in Etroubles, erreicht die Straße den Talgrund,
an dessen rechten Rand sie dann die restlichen knapp 4 km bis zum Abzweig
der alten Paßstraße auf 1500m Höhe hinaufführt. Die Transitstraße schwingt
sich hier in luftiger Höhe über ein Seitental hinweg, an dessen gegenüberliegender,
recht flach ansteigender Seite sie nach einer langgezogenen Serpentine weiter
ansteigt. Die alte Paßstraße bleibt auf der rechten, sehr viel steileren Talseite,
an der sie sich zunächst in zwei Spitzkehren weiter hinaufarbeiten muß und
dann nach kurzer Strecke dem Tal folgend in St.-Rhemy, dem letzten Ort vor
dem Paß, kurzzeitig wieder auf den Talgrund stößt. Inzwischen ist es merklich
kühler geworden. In Serpentinen, die sich mit geraden Stücken entlang des
Tals abwechseln, geht es dann zügig weiter bergan. Auf etwa 1700m ist der
Talgrund wieder erreicht. In einer langgezogenen Serpentine geht es die linke,
hier noch bewaldete Talflanke hinauf und dann etwa 2 km parallel zu der hier
auf Stelzen verlaufenden Transitstraße. Diese schwingt sich dann auf 1900m
über eine Brücke auf die andere Talseite und verschwindet dort im Berg. Hier
beginnt der letzte, der hochalpine Teil der Paßauffahrt. Hoch über dem Talgrund
folgt die nun einsame Straße zunächst der eingeschlagenen Linienführung, die
nach ca. 2 km in einem steil aufragenden Geröllhang endet. Diesen erklimmt
sie dann in ausgetüftelter Streckenführung, die in zum Teil filigranen Serpentinen
die Gegebenheiten des Abhangs optimal zu nutzen scheint. Daran sieht man,
daß sie aus einer Zeit stammt, in der man sich große Erdbewegungen für den
Straßenbau nicht leisten konnte. Die Straße zeichnet die vorgefundenen Linien
des Berghangs nach und zieht sich dabei immer weiter auf die rechte Seite
des durch ihn unterbrochenen Tals. Hier öffnet sich auf ca halber Höhe ein
geräumiges, steil ansteigendes hochalpines Seitental, an dessen Ende der Große
St.-Bernard mit 2469m den niedrigsten Teil des zwischen Italien und der Schweiz
verlaufenden Gebirszugs markiert, den ich gegen 14.10 Uhr erreiche. Bereits
im letzten Teil der Auffahrt hat sich der Himmel langsam zugezogen und ist
die Temperatur weiter zurückgegangen. Sie liegt jetzt nur noch bei 8 Grad.
Unten in Aosta, vor zweieinhalb Stunden waren es noch über 30. Nebel zieht
von Norden her über den Paß. Hier oben befindet sich genau zwischen den Bergflanken
ein See, an dessen gegenüberliegender Seite die Straße die letzten Meter hinauf
zum Hospitz erklimmt. Napoleon hat sich hier in einer geräumigen Halle ein
marmornes Denkmal setzen lassen, das an den Afrikafeldzug erinnern soll. Unvorstellbar,
wie eine Armee samt Ausrüstung hier rübergegangen ist, als es noch keine ausgebaute
Straße, sondern nur Säumerpfade gab. Ich kenne den Ort bereits von zahlreichen
vorherigen Touren und fasse den Aufenthalt daher kurz. Es bleibt bei einem
kleinen Imbiß und geht dann sofort in die Abfahrt. Bis hinunter nach Martigny,
das im Rhonetal auf nur noch 500m liegt, sind es ca 45 km. Die Nordseite des
Passes empfängt mich mit leichtem Sprühregen. Der Abstieg bis zu dem auf ca.
1900m liegenden Tunnelaustritt der Transitstraße folgt einem geröllgefüllten,
nach Nordost laufenden Tal, dessen steiler Abstieg gelegentliche Serpentinen
erzwingt. Ein reißender Gebirgsbach begleitet den Weg. Der sich verstärkende
Sprühregen treibt mich zur Eile. Die Transitstraße, auf die ich nach kurzer
Zeit stoße, kommt mir in mehrfacher Hinsicht entgegen: Sie läuft bei einem
Gefälle von etwas über 5% in weitgehend gerader Linienführung das Tal Richtung
Martigny hinab, im oberen Bereich durch langgezogene Galerien. So komme ich
einerseits rasant vorwärts. Ich kenne keine andere Paßabfahrt, auf der sich
1500 Höhenmeter weitgehend ohne Bremsen vernichten lassen. Die Galerien schützen
mich vor dem rasch stärker werdenden Regen, vorerst zumindest. Bereits nach
ca. 5 km, in Bourg-St.-Pierre, rausche ich aus der warmen Trockenheit in eine
Wasserwand hinein, die mich innerhalb von Sekunden durchnäßt. Noch einige
kurze Galerieabschnitte folgen und dann ist es nur noch die blanke Geschwindigkeit,
mit der ich versuche, das Ende der Regenwand zu erreichen. Die Hoffnung bestätigt
sich. Es war nur eine kurze aber intensive Dusche, jedoch dauert es noch einige
Kilometer in der sich zusehends abflachenden Abfahrt, bis der Regen völlig
aufhört, aber so richtig überzeugend tut er das nicht. In einigen Seitentälern
sehe ich ihn noch hängen, während sich in anderen einzelne Sonnenstrahlen
den Weg auf die Erde bahnen. Leichter Gegenwind kommt auf. Mit voller Kraft
fahre ich gegen ihn an. Das Rhonetal bei Martigny ist einige Kilometer breit
und zieht sich als satter Streifen der Zivilisation zwischen den beiden höchsten
Bergketten der Alpen von hier noch etwa 80 km mit sehr geringer Steigung nach
Osten bis Brig. Auf weiteren 45 km steigt es dann recht zügig an bis in das
1700m hoch, direkt unterhalb des Rhonegletschers gelegene Gletsch. Hier unten
bei Martigny ist es durchzogen von Verkehrsachsen, geprägt von Acker- Gewerbe-
und Wohnflächen. Es fällt nicht schwer, hier auf Tempo zu schalten, zumal
an diesem Nachmittag ein stürmischer Wind das Tal hinaufweht. Auch bei trübem
Wetter scheint er also zu funktionieren, der thermische Wind, der wohl in
keinem anderen Alpental so intensiv ausgeprägt ist, wie im Vallis. Von ihm
lasse ich mich erfassen. Nicht weit hinter mir treibt er gerade eine hochaufragende
Regenwand das Tal hinauf. Sie wird mich bald eingeholt haben. Ein Wettrennen
macht wenig Sinn und so lasse ich sie überholen, während ich in einem Supermarkt
meine Abendeinkäufe erledige. Zunächst auf der heute weitgehend verwaisten
Bundesstraße Richtung Sion geht es ab Riddes auf einer gemütlichen Nebenstraße
direkt am rechten Ufer der Rhone entlang, weiter rasant vorwärts. Immer wieder
fallen kurze Regenschauer. Kurz vor Sion bleibe ich auf einem riesigen, von
Holländern bevölkerten Familiencampingplatz, der nicht ganz meinem Geschmack
entspricht aber mir keine Wahl läßt. Es ist 17.30, weiterer Regen liegt in
der Luft und das 8-Stunden-Zeitlimit ist gerade überschritten.
Heute gefahren: 203,22 km in 8:16
h Sattelzeit mit durchschnittlich 24,5 km/h über 3135 hm.
Sonntag, 22.07.
In der Nacht hat es immer wieder
geregnet aber der Morgen empfängt mich freundlich, wenngleich er keinen fulminanten
Sommertag verheißt. Mit dem Start lasse ich mir heute Zeit. Ich setze auf
eine Fahrt mit Rückenwind, der sich jedoch erst im Laufe des Vormittags einstellen
wird. Um 8.50 fahre ich los aber der Wind kommt nur müde in Gang. Ausgedehnte
Wolkenfelder quellen im Tal entlang und verdunkeln immer wieder die Sonne.
Die Temperatur liegt bei kühlen 20 Grad und auch meine Beine wollen nicht
so recht in Fahrt kommen. Ich umfahre Sion und kämpfe mich dann durch die
verbleibenden knapp 60 km mäßig reizvoller Landschaft bis hinauf nach Brig,
das ich gegen 11.00 Uhr erreiche. Die Stadt liegt knapp 700m hoch. Viel ist
heute also noch nicht gewonnen. Hier in Brig wird das Rhonetal enger und beginnt
merklich zu steigen. Die noch junge und eiskalte Rhone hat sich bis hierher,
auf den ersten 50 km seit ihrem Austritt aus dem Gletscher zu einem kraftvollen
Fluß gemausert, der laut talabwärts rauscht. Die Schnellstraße von Lausanne
verläßt hier das Tal Richtung Süden hinauf zum Simplonpaß. Neben der Bundesstraße,
die weiter das Tal hinaufführt, verläuft jetzt nur noch die Bahnlinie. Auch
das Wetter hat sich inzwischen stabilisiert. Weiße Wolkenflecken liegen hier
und dort am Himmel. Zwischen ihnen wird das Sonnenlicht fast unmerklich durch
dünnen, hochliegenden Dunst getrübt. Viele Gründe also, den vor mir liegenden
Teil der Fahrt mit Entspannung und Genuß anzugehen. Auf den ersten 10 km entlang
des linken Flußufers steigt das Tal bereits auf 900m an. Hier beginnen die
ersten Serpentinen aus dem spitz eingeschnittenen Talgrund hinaus. Weiter
oben öffnet sich das Tal zu einer sanft hügeligen Wiesenlandschaft, die sich
als breiter grüner Streifen zwischen den hochaufragenden Bergen zu beiden
Seiten in die Ferne zieht. Das Flußbett ist teils canyonartig in ihn eingeschnitten.
An anderen Stellen laufen die grasbewachsnen Bergflanken sanft bis zum Fluß
hinunter aus. Die Straße hält sich stets hoch über dem Fluß und durchquert
dabei unzählige jener urigen Waliser Dörfer. Sie bestehen aus schicken alten
hölzernen Bauernhäusern in Blockbauweise, die kunsvoll mit Steinplatten abgedeckt
sind. Alte Speicher- und Scheunengebäude mischen sich darunter, von denen
man nicht genau sagen kann, ob sie noch in Betrieb sind. Das alte bergbäuerliche
Flair hat sich hier trotz des offensichtlich eingezogenen Tourismus authentisch
erhalten. Gepflegte, nach Sommer duftende Bergwiesen füllen das weite Tal.
In Fiesch klimmt die Straße erneut in einigen Serpentinen aus dem sich verengenden
Tal hinaus und passiert dann hoch oben über dem Fluß einen mehrere Kilometer
langen engen Talabschnitt, aus dem sie in Niederwald hinaustritt. Hier öffnet
sich der letzte sanfthügelige breite Talabschnitt, der sich über knapp 20
km bis nach Oberwald hinauf auf 1400m hinzieht. Irgendwo dazwischen liegt
Ulrichen, wo auf etwa 1300m der Anstieg zum Nufenenpaß hinüber ins Tessin
beginnt. In Oberwald beginnt der wilde Teil des Rhonetals, die letzten 10
km hinauf zur Abbruchkante des Rhonegletschers, die auf etwa 2200m kurz unterhalb
des Furkapasses liegt. Die Bahnlinie verschwindet hier im Furkabasistunnel
um auf der anderen Seite in Realp wieder zu Tage zu treten, jedoch führt die
alte, seit langem stillgelegte Linie einer Zahnradbahn bis weit hinauf in
den Paß hinein, um ihn dann auf ca 2000m in einem Tunnel zu durchstoßen. Die
alte Bahnlinie ist das Salz des sich nun anschließenden reizvoll-wilden Talabschnitts,
in dem sie sich neben der Straße auf liebevoll gemauerten Viadukten und in
süßen kleinen Tunnels als Wunderwerk der Technik einer vergangenen Zeit gegen
die Natur behauptet. Die Straße steigt in steilen Serpentinen, über Brücken
und entlang schroffer Felshänge in das auf 1700m hoch gelegene Gletsch. Wie
eine endlose Treppe wirken von hier die in die nördliche steile Talflanke
hineingemeiselten Serpentinen hinauf zum Grimselpaß. Vor mir liegt bereits
die Barriere, an der das Rhonetal endet und in die die Serpentinen zum Furkapaß
hineingebaut sind. Von links schiebt sich der Rhonegletscher in das Tal hinein,
wo er in luftiger Höhe auf einer glattgehobelten Felswand abbricht. Sieht
man sich alte Bilder von dieser Stelle an, dort endet der Gletscher viele
hundert Meter tiefer am Boden das Tals. In Gletsch schwingt sich die Straße
in einer langgezogenen Serpentine in die südliche Talflanke hinein, in der
sie dann mit ca. 7% Steigung in die Barriere am Talende hineinverläuft. An
dieser klettert sie dann in einer Serie steiler Serpentinen bis zur Gletscherkante
hinauf. Hier befindet sich ein gutbesuchtes Gasthaus mit dem Namen Bellevedere.
Seine Attraktion ist der Rhonegletscher, in dessen Eis man ein begehbares
Höhlensystem hineingemeiselt hat. Mein Blick schweift zurück hinunter auf
die junge Rhone und hinüber zur Himmelsleiter der Grimselpaßstraße. Hinter
dem Gasthaus zieht sich die Straße noch über knapp 2 km entlang des Abhanges
hinauf zum 2431m hohen Furkapaß, den ich gegen 15:15 erreiche. Mich empfängt
eine kühl-distanzierte aber sonnige Hochgebirgslandschaft. Die Paßhöhe wirkt
verwaist. Busse mit Butterfahrern halten meißt kurz auf dem geräumigen Schotterplatz,
wahrscheinlich wegen des Blicks zu dem stets wolkenverhüllten Finsteraarhorn,
der sich erhaben in einiger Entfernung rechts über dem Rhonetal erhebt. Der
Furkapaß markiert eine der großen Wasserscheiden der Alpen. Jenseits liegt
der Einzugsbereich der Reuß, die zum Flußsystem des Rhein gehört. Willkommen
in der nördlichen Hemisphäre! Die letzte Verbindung zum Mittelmeer breche
ich hier ab. Die Abfahrt beginnt in einer langgezogenen Linie hochoben in
der nördlichen Flanke des Reußtals. Eine filigrane Serie enger Serpentinen
hinab zum Talgrund läßt mehrere Kilometer auf sich warten. Bis dorthin ist
die Straße zwar recht kurvenarm aber auch sehr schmal. Sie erfordert höchste
Konzentration und vor allem Beherrschung. Sonntagsfahrer, Wohnmobile und Butterbusse
rumpeln hier in unerschöpflicher Abfolge hinab und fordern immer wieder riskante
Überholmanöver heraus. Schnell sieht man ihre Sinnlosigkeit ein, weil die
Freude ungebremster Abfahrt jeweils nur kurz währt. Dennoch ist der Abstieg
in das auf 1500m im Talgrund liegende Realp schnell geschafft. Mit nur noch
leichtem Gefälle und Gegenwind geht es dann in das ca 8 km entfernte Andermatt.
Kurz zuvor zweigt rechts die alte Gotthardstraße hinüber ins Tessin ab. Andermatt
ist ein sehr pittoreskes Städchen, dem man seine Lage an dem Knotenpunkt des
Alpentransitverkehrs nicht ansieht. Gotthardautobahn und Eisenbahn, die vom
Vierwaldstätter See das Reußtal hinauflaufen verschwinden weit unterhalb der
Stadt im Tunnel, den sie erst auf der Alpensüdseite wieder verlassen. Gegen
16.15 Uhr holpere ich durch die enge Altstadt und halte Ausschau nach einem
Bäcker. Es ist Sonntag und da muß man um diese Zeit nehmen, was man bekommt.
Am Ortsausgang kann ich noch ein paar Milchbrötchen abfassen, die ich zum
Teil gleich essen muß, weil ich sie nicht mehr verstauen kann. Aber irgendwie
weckt das Zeug auch die richtigen Reserven für den nun folgenden Oberalbpaß,
der eigentlich nicht so recht der Erwähnung wert ist, weil er mit seinen 2044m
gerade einmal 600m höher als Andermatt liegt. Direkt hinter dem Ortsausgang
beginnt in östlicher Richtung eine Serie langgezogener Serpentinen, die ich
durch die Milchbrötchen fühlbar gestärkt- bereits mit mäßigem Tempo angehe.
Umso unverständlicher, daß mich nun noch jemand überholt. Meinem ersten Eindruck
nach fährt er bereits ziemlich am Limit. Ich entscheide mich für Revanche.
Die Steigung beträgt hier etwa 7% und ich fühle mich stark genug, den durch
mein Gepäck gegebenen Nachteil zu kompensieren. Während ich meinen Gegner
zunächst fahren lasse, verschärfe ich langsam das Tempo bis auf ca. 15 km/h.
Unter diesen Umständen ist das für meine Verhältnisse bereits sehr viel aber
ich finde hier einen Rhythmus, in dem ich das Tempo bequem halten kann, also
nach oben hin immer noch Reserven habe. So arbeite ich mich an meinen Gegner,
der wohl inzwischen etwa 50m vor mir fährt, langsam heran, warte aber den
Angriff noch ab, solange ich nicht weiß, wie stabil mein Leistungszustand
ist. Irgendwann gebe ich mir den Ruck und ziehe vorbei. Mein Tempo hat sich
inzwischen weiter verschärft, ohne daß ich es bewußt gesteuert hätte es sind
inzwischen 17 km/h- und ich beginne zu zweifeln, wie lange ich das halten
kann. Normalerweise fahre ich bei 7% Steigung 10 km/h. Mein Gegner hängt sich
sofort hinten an, aber ich weiß, daß dies ein Fehler ist. Er hat sich von
mir einen Rhythmuswechsel aufzwingen lassen und daran wird er zusammenbrechen.
Mehr noch: er überholt mich wieder aber ich lasse ihn getrost ziehen, weil
ich weiß, daß man in dieser Steigung nicht auf Dauer dieses Tempo hält, wenn
man nicht solide trainiert ist. Er erarbeitet sich also erneut einen Vorsprung
von etwa 50m. Trotz des scharfen Tempos habe ich noch Reserven nach oben und
deshalb werde ich dieses Rennen, das nun noch etwa 4 km bis zur Paßhöhe dauern
wird, gewinnen. Die Serpentinen haben wir inzwischen hinter uns gelassen und
die Straße zieht sich im linken Abhang eines zum Paß hinauflaufenden Tals
in gerader Linie weiter bergan. Langsam läßt die Steigung nach und ohne bewußtes
Zutun werde ich schneller. Ich schalte und schalte, lege schließlich das große
Kettenblatt auf, obwohl es noch immer bergan geht. Kurz unterhalb der Paßhöhe,
auf ca. 2000m befindet sich rechts der Straße, die hier in eine langgezogne
Galerie einmündet, ein See. Inzwischen habe ich 30 km/h erreicht und ziehe
an meinem Gegner vorbei, der keine weiteren Versuche zu unternehmen scheint,
an mir dranzubleiben. Am Ende der Galerie beginnt noch einmal ein knapper
Anstieg hinauf zum Paß.
Um 16.55 stehe ich am Paßschild
- 40 min für die 600 hm von Andermatt können sich sehen lassen. Die Paßpause
halte ich knapp. Nach einer Handvoll recht spitzer Serpentinen ist das obere
Ende des sich östlich an den Oberalppaß anschließenden Vorderrheintals schnell
erreicht, dem sie dann auf der linken Flußseite recht kurvenarm weiter in
östliche Richtung folgt. Enge und weite, kaskadenartig abfallende und flache
Talabschnitte wechseln einander ab, jedoch hält sich die Straße stets dicht
am Talgund. Die umliegenden Berge erreichen kaum mehr 2500m. Ihre Gipfel sind
baumlos, teils felsig und die verflogene hochalpine Schroffheit setzt sich
fort in der gemäßigten Geometrie, mit der das Vorderrheintal insgesamt begegnet.
In einem weiten, wiesenbedeckten Talabschnitt läuft die Straße durch das etwa
1400m hoch gelegene Sedrun, von dessen historischem Ortskern allerdings wenig
zu erkennen ist. Anders das eine Kaskade tiefer, auf ca. 1100m gelegene Disentis/Mustér,
das mit einer pittoresken Altstadt und einer wuchtigen barocken Klosteranlage
aufwartet. Nach Süden zweigt hier der Lukmanierpaß ab. Es ist wohl diese Verkehrsachse,
die in der Vergangenheit für den bescheidenen Wohlstand gesorgt hat, der sich
an den gewachsenen Ortskernen der weiter flußabwärts gelegenen Siedlungen
ablesen läßt. Eine von ihnen ist das ca. 10 km weiter auf ca. 850m gelegene
Trun, ein urig anmutendes Bergbauerndorf mit immerhin 3 Kirchen, das ich gegen
17.50 Uhr erreiche und als Übernachtungsort nutze.
Heute gefahren: 186,46 km in 7:47
h Sattelzeit mit durchschnittlich 23,9 km/h über 2837 hm.
Montag, 23.07.
Der Tag beginnt kühl, der Himmel
ist heiter und ich starte um 7.55 Uhr mit der weiteren Abfahrt. Bis Ilanz
sind es ca. 20 km. Hier beginnt ein sehr enger Talabschnitt, der die Straße
hoch aus dem Tal hinauszwingt. Ich nehme die alte Verbindungsstraße Richtung
Chur, die an der rechten Talseite entlangführt und sich dort wieder bis auf
etwa 950m Höhe hinaufzieht. Die Straße ist schmal und wenig befahren. Sie
führt durch Bergwiesen und urig anmutende Bergdörfer. Nach etwa 15 km mündet
sie in einen schluchtartigen Talabschnitt, an dessen felsig-bizarren Rand
sie sich hochoben über dem Fluß ein ganzes Stück dahinzieht. Weiter geht es
nach Bonaduz und Reichenau, wo Vorder- und Hinterrhein zusammenfließen, der
eine graubraun, der andere funkelnd-blau. Hier beginnt dann auch wieder die
Zivilisation, wie ich sie seit Brig, seit dem Eindringen in das obere Vallis
mit seiner idyllischen Bergwelt vor genau einem Tag verlassen hatte. Hier
bekomme ich wieder eine Schnellstraße zu Gesicht und das nur noch wenige km
voraus liegende Chur ist nicht nur Kantonshauptstadt von Graubünden, sondern
auch Industriestadt. Diese durchquere ich auf der parallel zur St.-Bernardino-Autobahn
verlaufenden Staatsstraße, der ich dann weiter bis Landquart folge, wo ein
letzter hochalpiner Abschnitt dieser Reise beginnt. Um 11.00 nehme ich die
Straße Richtung Davos / Flüelapaß in Angriff. Inzwischen ist es sommerlich
warm, der Himmel föhnig heiter. Heute wird es wohl noch trocken bleiben, aber
wie lange noch? Die ersten 15 km verläuft die Straße als Schnellstraße in
dem noch recht geräumigen Talgrund. Als Radfahrer benutzt man teils die in
einzelnen Passagen belassene alte Verbindungsstraße nach Davos, teils parallel
laufende befestigte Wirtschaftswege. Extrem eng eingeschnittene aber auch
weite Talabschnitte wechseln sich ab. Man durchquert die nicht unansehliche
Kleinstadt Schiers. Hinter Jenaz beginnt dann wieder ein schluchtartiger Abschnitt.
Hier endet die ausgebaute Schnellstraße und man schlängelt sich nun mit dem
übrigen Verkehr weiter das Tal hinauf. Hinter Küblis klettert die Straße mit
mäßigem Anstieg den linken Talrand hinauf bis nach Saas und verläuft dann
in respektvoller Höhe über dem Talgrund bis zum 6 km entfernten Klosters.
Das ansehliche Städtchen liegt ca. 1200m hoch in einem sehr weiten Talabschnitt.
Schwerlast-und Transitverkehr verschwinden hier im Flüela-Basistunnel, der
erst in Susch wieder zum Vorschein kommt. Weiter geht es mit alpinem Steigungsniveau
durch dichten Nadelwald hinauf nach Wolfgang, einem kleinen Zwischenpaß, von
dem man sich dann hinunter zum Davoser See auf knapp 1600m rollen lassen kann.
Inzwischen ist es nur noch mäßig warm. Über den Bergkämmen tobt ein Fönsturm
aus südlicher Richtung, der mir auch hier unten das Fahren noch schwer macht.
Der Himmel ist mit fischförmig ausgefransten Wolkenfeldern versehen und im
übrigen von blassem blau. Der Anstieg zum Flüelapaß zieht sich von Davos in
gerader Linie ein V-förmig eingekerbtes Tal hinauf, das recht schnell hochalpinen
Charakter annimmt. Nur vor der Paßhöhe gibt es noch einige Serpentinen in
der bizarren Geröllandschaft. Hier bekomme ich den Sturm voll zu spüren. Teilweise
weht er direkt von vorn. Er fordert alle Kraft. Die Paßhöhe erreiche ich gegen
15.00. Heute erlebe ich sie das zweite Mal bei klarer Sicht, das erste mal
war vor zwei Wochen beim Radmarathon. Sonst war es hier oben immer regnerisch
und wolkenverhangen, so daß selbst das gegenüberliegende Ufer des kleinen
Paßsees nicht zu sehen war. Die Pause hier oben bleibt kurz. Bis Susch sind
es reichlich 10 km bei rasanter Abfahrt, die in gerader Linie einem schroff
geschnittenen Tal folgt und recht wenige Serpentinen aufweist.
Im Inntal steht der lauwarme Fönsturm
talabwärts und ich lasse mich mitreißen hinein in eine Gegend, in der ich
erst einmal vor längerer Zeit war. Das Engadin wirkt hier verlassen mit nur
kleinen Orten, die recht weit auseinander liegen. Stellenweise scheint die
Zeit stehengeblieben zu sein. Einziger größerer Ort ist Scuol, der, wie man
an der victorianischen Architektur erkennt, seine Existenz im wesentlichen
der Belle Epoque verdankt, als man sich für die hier zu Tage tretende eisenhaltige
Heilquelle interessierte. Der Ortskern liegt an der rechten Flußseite, während
die Straße am linken Ufer hochoben über dem dahinbrausenden Inn entlangläuft.
Ein wildromantischer Talabschnitt schließt sich an. Die Grenzstation Richtung
Österreich in Martina wirkt wie ein Außenposten der Zivilisation und weiter
geht es durch dunkle Wälder, in denen Trolle zu Hause zu sein scheinen und
das menschenleere, tief geschnittene Tal hinauf zum 1188m hoch gelegenen Finstermünzpaß.
Hier beginnt Österreich. Noch einige km und ich stoße, weiter mit dem Sturm
talabwärts fahrend, auf die Verbindungsstraße von Landeck zum Reschenpaß.
Es ist eine stark befahrene Schnellstraße, die Romantik ist vorbei. Schnell
erreiche ich Pfunds, einen liebevoll museal gestalteten Ferienort, wo aber
die Bürgersteige bereits halb hoch geklappt sind. Zum Glück haben die Geschäfte
noch geöffnet. Von hier läuft dann parallel zur Schnellstraße die alte Verbindungsstraße
Richtung Landeck, die sich recht schön fahren läßt und die allesamt gepflegten
Ortschaften entlang des Weges durchquert.
Prutz erreiche ich um 18.30 Uhr.
Hier bleibe ich auf einem jener uncharmanten Familiencampingplätze der direkt
am Inn liegt, von diesem aber durch einen Maschendrahtzaun getrennt ist. Bald
darauf beginnt es zu regnen.
Heute gefahren: 209,34 km in 8:46
h Sattelzeit mit durchschnittlich 23,8 km/h über 2798 hm.
Dienstag, 24.07.
Das Wetter ist in der Nacht zu
unbeständigem Schauerwetter gekippt aber die Hoffnung auf die dazwischen liegenden
trockenen Abschnitte aber auch der Wille, die Berge heute endgültig zu verlassen,
lassen mich um 7.50 Uhr im Nieselregen starten. Ich habe mich für den direkten
Weg Richtung Imst entschieden und dies bedeutet, den weiten Bogen, den der
Inn hier über Landeck schlägt, durch den direkten Weg in nordöstliche Richtung
über die Berge abzuschneiden. Prutz liegt auf knapp 900m Höhe. Ich halte mich
Richtung Faggen. Der Anstieg beginnt steil. In Kauns halte ich mich links
Richtung Pillerhöhe und erreiche mühsam die auf knapp 1600m gelagene Abrißkante
hoch über dem Inntal, der die Straße hier einige Kilometer folgt. Der Regen
hat inzwischen aufgehört. Von Zeit zu Zeit zeigt sich die Sonne aber es bleibt
kühl. Der Weg ist von steinigen Wiesen und dichten Wäldern gesäumt. Ab Piller
geht es steil bergein. In Wenns stoße ich auf die das Pilztal hinunter nach
Arzl im Inntal führende Hauptstraße und fahre weiter in das gegenüberliegende
Seitental nach Imst. Hier beginnt das Hahntennjoch mit ebenso solider Steigung,
mein letzter Paß in diesem Jahr. Ewig zieht es sich hin. Innerlich habe ich
mit den Bergen bereits abgeschlossen und umso quälender wird jede Minute und
jeder der von Imst bis zur Paßhöhe zu überwindenden 1000 m Höhe. Über den
Bergen brauen sich dunkle Wolken zusammen und grummeln mich böse an. Blitz,
Donner und Regen lassen nicht lang auf sich warten. Bei Gewitter soll man
hier nicht langfahren, ist auf Straßenschildern zu lesen Murengefahr. Bald
säumen endlose, kahle Schuttabhänge die linke Straßenseite. Bei starkem Niederschlag
rutschen Geröllavinen ab. Die Spuren kann man überall sehen. Zeitweise regnet
es dichter, dann schaut mal wieder kurz die Sonne hervor. Um 12.15 erreiche
ich die 1894m hohe Paßhöhe, als es gerade wieder anfängt, leicht zu regnen.
Keine Zeit für eine Pause. Meine Abfahrt führt genau in die nächste Regenwand
hinein und dieser Regen ist stark und langanhaltend. Auch die Abfahrt wird
zur Ewigkeit. Anhalten kommt nicht mehr in Frage, denn ich bin bereits bis
auf die Knochen naß. Ich fahre so schnell ich kann, denn ich hoffe auf ein
Ende des Regens. Immer wieder geht es durch Tunnels. Hier ist es schön trocken
und warm, aber zum Aufwärmen sind sie zu kurz. Gnadenlos wartet am Ausgang
die nächste kalte Wasserwand. Nach einer Ewigkeit erreiche ich die Hauptstraße,
die mich unten im Lechtal weiter Richtung Reutte bringt. Der Regen hört langsam
auf. Mit Rückenwind rase ich der deutschen Grenze entgegen. Schnellfahren
ist das Rezept, um hier schnell wegzukommen, um warm zu bleiben und um trocken
zu werden. Mit der Zeit geht es auf aber immer wieder kommen Regenschauer
harangezogen, denen ich versuche, zu entkommen, indem ich noch schneller fahre.
Reutte ist schnell durchquert und bei Füssen erreiche ich nicht nur wieder
Deutschland, sondern verlasse auch die hier abrupt endenden Alpen. Weiter
geht es auf der B16, entlang des Foggersees, weiter nach Norden. Die Straße
ist recht eben, der Wind steht im Rücken und schnell rücken die Berge hinter
mir in die Ferne. Immer wieder schaue ich mich um. Dicke Schauerwolken wüten
dort. Sie ziehen an der Gebirgsfront entlang, quellen aus den Tälern heraus
und tummeln sich auch auf der nun immer größer werdenden Ebene zwischen mir
und den Bergen. Die Berge kotzen sie mir hinterher aber sie erreichen mich
nicht mehr. Der Lech ist nun mein Begleiter nach Norden. Ich werde ihm bis
zur Donau folgen. Am Ende des Foggersees wird es wieder hügelig. Ich verlasse
die B16 rechts Richtung Lechbruck und schlage mich dann durch das hügelige,
teils bewaldete Allgäu mit seinen wohlhabenden Bauerndörfern. Nach Bernbeuren
und Bruggen erreiche ich alsbald Schongau, das ich dann ein Stück auf der
B 17 Richtung Landsberg verlasse. Bald schlage ich mich nach rechts Richtung
Reichling, um auf der parallelen Nebenstraße auf der anderen Flußseite weiter
nach Landsberg zu fahren. Einige bissige Anstiege halten mich nochmals auf.
Südwestlich von mir sehe ich immer wieder Schauerzellen dahinziehen. Die Berge
sind bereits außer Sichtweite. Der Himmel vor und über mir ist mit einem dünnen
Wolkenschleier bedeckt, der diffuses Sonnenlicht hindurchläßt und mäßige,
trockene Wärme abstrahlt. Nach wie vor weht ein starker Wind aus südwestlicher
Richtung. Über Reichling, Vilgertshofen und Pitzling erreiche ich schließlich
über eine Hochebene den Stadtrand von Landsberg. Links liegt scheinbar mitten
im Feld ein Campingplatz. Dort endet die Etappe um 17.30.
Heute gefahren: 184,44 km in 7:57
h Sattelzeit mit durchschnittlich 23,1 km/h über 2537 hm.
Mittwoch, 25.07.
Der Tag beginnt freundlich. Der
Spuk ist vorbei. Für die nächsten Tage wird warmes Sommerwetter verhießen.
Meine Tour wird also im Sommer ausklingen - keine Flucht mehr vor Regenwolken.
Um 9.15 fahre ich los. Hinter Landsberg folgt ein weiter, ebener Talabschnitt,
den ich auf der rechten Seite des Lech auf durchgängig und zügig zu befahrenden
Nebenstraßen passiere. Weil, Scheuring, Prittriching, Mering und Kissing säumen
als größere Orte neben den weiterhin typischen Allgäuer Bauerndörfern den
Weg. Unaufhaltsam bewege ich mich auf Augsburg zu einen solchen städtischen
Großraum ohne Umwege und Zeitverlust zu durchqueren ohne dem Sog der Schnellstraßen
zu erliegen, auf die man stets gerät, wenn man nicht in jeder Sekunde gegensteuert,
ist eine wahre Herausforderung, die sich nur durch intensives Kartenstudium
möglichst am Abend vorher und im übrigen durch höchste Konzentration bei der
Ortsdurchfahrt meistern läßt. Entscheidend ist nämlich, die richtigen Nebenstraßen
zu finden, die in der Regel entweder gar nicht oder nicht so beschildert sind,
wie man es denkt. Ich durchquere Friedberg, einen östlichen Vorort und finde
nach einigen Irrungen die weiter nach Norden Richtung Bergen, Mühlhausen und
Rehling führende Landstraße. Hier geht es dann in einem kleinen, parallel
zum Lech verlaufenden Nebenflußtal in die letzte Etappe Richtung Donau. Die
Landschaft hier ist platt und ich komme schnell vorwärts. Um 12.00 überfahre
ich auf einer kleinen Brücke bei Marxheim die Donau. Sie plätschert hier unscheinbar
klein dahin. Auf der anderen Seite erwartet mich eine völlig andere Kulturlandschaft.
Es ist jetzt hügelig. Wälder und Wiesen wechseln sich mit Feldern ab. In den
Dörfern fehlen die großen bäuerlichen Wirtschaftsgebäude, wie man sie vom
Allgäu her kennt. Hier stehen gedrungene Steinhäuser. Wuchtig und eckig wirken
die Dorfkirchen. Schlanke Türme mit barocken Hauben wie noch kurz zuvor auf
der anderen Flußseite sieht man hier nicht mehr. Ich habe soeben eine Grenze
überschritten, die auf keiner Landkarte eingezeichnet ist. Dort ist nur ein
Fluß. Die folgenden Stunden geht es durch abwechslungsreiche, teils bewaldete
Hügellandschaft. Ich durchquere Monheim, halte mich dort nördlich, fahre ein
kurzes Stück auf der B2 und halte mich dann links Richtung Rehau. Hier folge
ich einem kleinen mit bewaldeten Hügeln gesäumten Flußtal, dessen Dörfer allesamt
Schmuckstücke sind, bis Treuchtlingen und folge von hier weiter der Altmühl
in nordwestliche Richtung. Bald wechsle ich hinüber zum Nordufer und fahre
weiter über Bubenheim, Trommetsheim, Alesheim und Gundelsheim. In Pfofeld,
am Rande eines sich von West nach Ost ziehenden Höhenzuges überschreite ich
den inzwischen nicht mehr sichtbaren Limes, die zweite Grenze des heutigen
Tages. Ich habe nun das römische Reich verlassen und betrete Germanien. Willkommen
zu Hause! Eine zeitlang beschäftigt mich die Frage, warum die Römer ihre Grenzbefestigung
ausgerechnet hier und nicht 50 km südlicher an der Donau als natürlicher Grenze
errichtet haben, die wohl viel leichter zu kontrollieren gewesen sein muß,
aber mir ist keine vernünftige Antwort eingefallen. Kurz darauf komme ich
an die dritte Grenze des heutigen Tages. Sie ist am Straßenrand mittels eines
Wasserbrunnens markiert: die Wasserscheide zwischen Donau und Main. Ich nutze
den Ort für eine Trinkpause und merke dabei, wie ausgedörrt ich bin. Mein
Körper saugt endlose Mengen an Wasser auf wie ein Schwamm. Weiter geht es
zunächst in westliche Richtung nach Gunzenhausen, wo ich mich auf der B466
rechts halte. Nach wenigen km geht es links raus entlang einer kleinen Straße
Richtung Haundorf. Hier halte ich mich wieder nach Norden und nehme eine kleine
Nebenstraße über Oberhöhberg und Mitteleschenbach hinunter nach Windsbach.
Die Landschaft ist hier wellig und abwechslungsreich, die Orte, die ich durchquere,
schön anzusehen. Nach einigem Irren finde ich den weiteren Weg über Moosbach
und Bertholdsdorf nach Veithsaurach, wo ich mich links auf eine kleine Nebenstraße
Richtung Rohr schlage. Inzwischen habe ich den Großraum Nürnberg erreicht
aber von der nahen Großstadt ist hier nichts zu spüren. Ich habe den Abstand
gerade richtig gewählt, um einerseits dem Sog der Einfallstraßen zu entgehen
und andererseits einen nicht allzu großen Bogen fahren zu müssen. Das Geflecht
der Nebenstraßen erlaubt hier einen durchgängigen Kurs nach Nord. In Roßtal,
einem sehr schönen kleinen Städchen muß ich einige Runden um die Kirche drehen,
bis ich den weiteren Weg Richtung Ammerndorf, eine kleine, aus dem Ort hinaussteigende
Straße, finde. Langsam wird es Abend. Ein Campingplatz ist hier in der Gegend
nicht verzeichnet und schon seit längerer Zei halte ich Ausschau nach einem
geeigneten Waldstück. Die Gegend ist mit ihren Hügeln, Wiesen und Wäldern
zum Übernachten recht einladend. Hinter Ammerndorf gehe ich dann schließlich
in einen Waldstreifen hinein und suche mir ein ebenes Plätzchen. Es ist 19.00
Uhr.
Heute gefahren: 210,48 km in 7:53
h Sattelzeit mit durchschnittlich 26,6 km/h über 1336 hm.
Donnerstag, 26.07.
Schlußetappe. Die Bedingungen
sind gut. Um 8.05 verlasse ich den dunklen Wald und fahre hinaus in die Morgensonne.
Mit Kurs Nord geht es durch Carolsburg, Seukendorf und Veitsbronn vorbei an
Herzogenaurach nach Höchstadt an der Aisch. Jede Nebenstraße hat hier einen
Radweg. Benutzt man ihn, so kommt man nicht vorwärts, hat bei kreuzenden Nebenstraßen
keine Vorfahrt und findet sich in den Ortseinfahrten, die hier allenthalben
schön bergein führen, oft unversehends auf dem Fußweg wieder. Benutzt man
den Radweg nicht, wird man dumm angemacht. Manche Leute verbringen
den Tag damit, Polizei zu spielen, weil sie dort wahrscheinlich nicht genommen
wurden. Die Laune ist leicht getrübt. Weiter geht es über Pommersfelden, Frensdorf
und Pettstadt ins Tal der Regnitz, die mich nach Bamberg begleitet. Die Stadt
ist ein Kleinod. Man kann hier wohl gut leben. Von Süden her nähere ich mich
ihr durch einen endlos langen Park, der sich zwischen Regnitz und Main-Donau-Kanal
ausbreitet. Ich passiere den Rand des alten Stadtkerns, halte mich Richtung
Bahnhof und finde prompt die richtige Ausfallstraße Richtung Memmelsdorf,
zunächst eine vierspurige Stadtautobahn, die jedoch alsbald zur bequem an
einem kleinen Flüßchen entlanglaufenden Landstraße wird, deren einziger Makel
der Radweg ist. In Scheßlitz halte ich mich links Richtung Ebensfeld. Es geht
hier durch hügelige Sommerlandschaft. Auch hier sind die Dörfer sehr schön.
In Schweisdorf treffe ich unerwartet aber willkommen auf einen Brunnen. Außerhalb
der Alpen, wo man allenthalben auf Quellen stößt, sind solche Orte erwähnenswert.
Ab Ebensfeld folge ich dem Main. Bad Staffelstein umfahre ich und wechsle
hier zum Nordufer. Hochoben über dem Fluß erhebt sich das Kloster Banz mit
seinen beiden schlanken Barocktürmen. Durch die nördlich des Flusses gelegene
Hügellandschaft folge ich seinem Lauf weiter Richtung Nordost, passiere Lichtenfels
und gehe in Michelau wieder auf Nordkurs. Es geht durch Sonnefeld, Bieberbach,
Ober-, Mittel- und Unterwasungen Richtung Sonneberg. Abrupt wechselt der Charakter
der Dörfer. Dort wo früher die Zonengrenze war, beginnen die typischen Schieferdörfer,
wie sie sich durch Thüringer Wald und Schiefergebirge zum Teil bis vor die
Haustür Jenas ziehen. Jetzt trennt mich nur noch der Höhenzug des Thüringer
Waldes von zu Hause.
Bereits vor Stunden hat sich ein
strammer Südwind aufgebaut, der das Tempo beschleunigt. Nun lege ich noch
einen Zahn zu. Hinter Sonneberg führt ein romantisches Tal hinauf Richtung
Neuhaus am Rennweg. Parallel zur Straße läuft eine alte Eisenbahnlinie. Reste
von Wassermühlen säumen den Weg. Langsam steigt die Straße an. In Blechhammer
biege ich nach rechts und folge einem kleinen Flußtal durch Wiesen, Wälder
und langgezogene Schieferdörfer hinauf nach Spechtsbrunn. Hier überschreite
ich den ca. 800m hohen Kamm und nehme in gewohntem Tempo die in zwei langgezogenen
Serpentinen verlaufende Abfahrt hinunter nach Gräfenthal und folge dann der
Hauptstraße nach Probstzella. Längst habe ich den Aktionsbereich einer Tagestour
von zu Hause erreicht, kenne die Gegend. In Probstzella gehe ich auf die B85,
die in Schlängellinien einem kleinen Flüßchen nach Norden folgt. In diese
Richtung steht auch der Wind. Mit knapp 40 km/h jage ich die Piste entlang.
Ich kann spüren, wie ich dabei austrockne. In Kaulsdorf erreiche ich die Saale
und biege hier rechts ab Richtung Hohenwarte. Ein letzter langezogener Anstieg
erwartet mich, der in Goßwitz endet. Hinab geht es nach Könitz und weiter
auf der B 281 nach Pößneck. Die letzten Kilometer. In Pößneck biege ich direkt
nach rechts in die Altstadt, um mir den Bogen zu ersparen, den man sonst um
die ganze Stadt herum fahren muß, um auf die Orlatalstraße zu gelangen. Ich
jage durch die Fußgängerzone und über Kopfsteinpflaster und biege am Ende
der Stadt direkt nach links. Hier gelange ich auf den Weg, den ich gekommen
bin. Im Orlatal kommt der Wind eher von der Seite, es geht nicht mehr ganz
so schnell. Bei Orlamünde geht es direkt auf die B88. Der Wind steht hier
wieder gut und trägt mich über die Zielgerade nach Jena.
Um 17.45 stehe ich wieder vor
der Haustür in der Liebknechtstraße, die ich vor 27 Tagen, 1 Stunde und 45
min verlassen habe.
Heute gefahren: 246,96 km in 8:24
h Sattelzeit mit durchschnittlich 29,3 km/h über 1680 hm.
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